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Die Stunde

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Von: Sylvia Staude

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In Deutschland und anderen Ländern wurde die Uhr umgestellt.
In Deutschland und anderen Ländern wurde die Uhr umgestellt. © Ralf Hirschberger/dpa

Hat sie etwa schon wieder heimlich ihren Koffer gepackt? Um bis zum Herbst zu verreisen?

Wie hat sie es bei Ihnen gemacht, die Stunde? Hat sie sich trotz all ihrer 60 Minuten und 3600 Sekunden still und heimlich verdrückt, als Sie geschlafen haben? Haben Sie ihre Abwesenheit erst spät bemerkt, zum Beispiel, als Sie den Tatort gucken wollten und im letzten Drittel einer nun rätselhaften Handlung landeten? Oder hat sie demonstrativ bereits Samstagmittag ihren Koffer gepackt, 60 Minuten, 3600 Sekunden säuberlich darin gereiht und nochmal nachgezählt? Nicht, dass im Herbst auch nur eine dieser Sekunden fehlt. Wie würde sie dann dastehen, den Pedanten, Zehntelsekundenzählern unter den Uhren gegenüber? Als würde sie den Überblick verlieren über ihre tickende Schar.

Aber wenn hier einer den Überblick verliert, dann ja wohl der zeitgemäß und zeitmäßig Tag für Tag herausgeforderte Mensch. Der nicht nur fragt: Wer hat an der Uhr gedreht, ist es wirklich schon so spät? Der zum Beispiel sagt (im Rundfunk): „Die Sommerzeit wirft uns zurück auf Mitte Februar“. Selbst ein mathematischer Laie wird da stutzen. Aber sich in diesem Jahr auch denken, dass es doch gar nicht schlecht wäre, wenn die Welt im Allgemeinen und Wladimir Putin im Besonderen zurückgeworfen würde auf Mitte Februar – und sich besinnen könnte in einer Sache, der seit dem 24. Februar wichtigsten und schrecklichsten Sache.

Es ist natürlich (und 2022: leider) in obigem Satz nur die Rede vom Zeitpunkt des Sonnenaufgangs. Gerade noch mögen wir im Hellen aufgestanden sein, da klingelt der Wecker plötzlich wieder, wenn es noch dunkel ist.

Ist das ein Grund sich aufzuregen? Oder eher, wenigstens für diesmal die Schultern zu zucken und sich zu sagen, dass Ukrainerinnen und Ukrainer jeden Tag ihre Uhren umstellen würden, wenn sie wüssten, dass das dann ihr einziges Problem bliebe.

Kürzlich hat der US-Senat beschlossen, die Winterzeit abzuschaffen und dauerhaft die Sommerzeit festzusetzen. Alle 3600 Sekunden, die sich endlich nicht mehr in einen Reisekoffer quetschen wollten, und alle Senatorinnen und Senatoren der Republikaner – die doch sonst die Zeit immer noch zurückdrehen wollen – und der Demokraten stimmten dafür. Nein, die Sekunden, obwohl direkt betroffen, durften im US-Senat selbstverständlich nicht abstimmen, da haben wir geflunkert; aber dass Republikaner und Demokraten jemals wieder einer Meinung sein würden – eine kleine Stunde, die jahrelang bereit war, sich hin und her schieben zu lassen, machte es möglich. Es gab keinen einzigen Zeitumstellungsleugner, auch keine -befürworterin, die eine Sommerzeit-Verschwörung witterte, mit der Menschen dauerhaft gezwungen werden sollen, früher aufzustehen.

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