Die Sehnsucht nach Wärme

Der Pianist Igor Levit ist ein Künstler, der sich politisch einmischt – auch mit der Wahl seiner Musik. Ein Stück hat für ihn in diesen Zeiten eine besondere Bedeutung.
Alles, was ich will, ist ein Zimmer irgendwo, weit weg von der kalten Nachtluft. Viel Schokolade, viel Kohle, die wärmt. Warmes Gesicht, warme Hände, warme Füße. Wäre das nicht herrlich? Ich würde mich nicht rühren, bis der Frühling über die Fensterbank kriecht. Jemandes Kopf ruhte auf meinem Knie, warm und zärtlich.“ So singt es Eliza Doolittle in „My Fair Lady“. In diesem Lied „Wouldn’t It Be Loverly“ – „Wäre das nicht herrlich?“ – geht es eigentlich nicht um Krieg. Aber um die Sehnsucht nach Frieden, Geborgensein, Sicherheit.
Der Pianist Igor Levit spielt es, in der Bearbeitung des US-Jazzpianisten Fred Hersch, in diesen Tagen gerne als Zugabe bei seinen Konzerten, es bedeute ihm sehr viel, sagt er der FR. Geboren am 10. März 1987 im russischen Nischni Nowgorod, das damals Gorki hieß, war Levit noch ein Kind, als seine Familie 1995 nach Hannover übersiedelte, sie waren jüdische Kontingentflüchtlinge. Heute ist er dort Professor für Klavier an der Hochschule für Musik, Theater und Medien. Und er ist ein Mensch, der sich einmischt. Seine Musikauswahl darf, besonders in dieser Zeit, durchaus politisch verstanden werden. Oder zumindest als Statement, nicht zufällig gewählt.
FR-Ausgabe: Ein schwarzer Tag
Der russische Angriff auf die Ukraine markiert eine Zäsur. Wie der Krieg das Denken militarisiert und sich die Sicherheitslage in Europa verändert, untersucht die Themenausgabe der Frankfurter Rundschau vom 24. Februar 2023, der wir diesen Text entnommen haben. Weitere Aspekte daran:
Neue Normalität: Frieden wird die Ausnahme sein, sagt der Soziologe Richard Sennett.
Altes Denken: Wie der Militarismus einen Siegeszug durch unsere Köpfe angetreten hat.
Neuer Alltag: Stefan Scholl berichtet für die FR aus Moskau. Der Krieg hat sein Leben verändert.
Alte Ängste: Politologe Karl-Rudolf Korte über die Sorgen der Deutschen und ihr Krisenmanagement.
Neues Leben: Flucht aus Kiew, dann Neubeginn in Deutschland: Zwei Brüder berichten über ihr Jahr.
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Mit Fred Hersch verbinde ihn eine tiefe Freundschaft: „Er hat für meine Selbstbestärkung eine große Rolle gespielt, indem er mir die Furcht nahm vor dem Weg, den ich gehe. Er hat mal sein Spiel wunderbar beschrieben: ,Ich fange an zu spielen, und dann gehe ich auf einem bestimmten Weg. Wenn er mir gefällt, gehe ich weiter. Und irgendwann kommt der Punkt, wo ich das Gefühl habe, ach nein, das mag ich jetzt nicht mehr. Und dann nehme ich einfach die nächste Ausfahrt und gehe woanders hin.‘“ Dies sei ihm ein Vorbild, sagt Levit: „Dieses Ausprobieren beim Konzertspielen, das habe ich sehr von ihm.“
Diese tastende, zarte Kraft seines Spiels steht – scheinbar – ganz im Gegensatz zu der Deutlichkeit und Entschiedenheit seiner Stimme. Igor Levit ist immer wieder gegen Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit aufgestanden, er spielte für die Fridays For Future und gegen die Rodung des Dannenröder Forsts, gegen die AfD und für die Unterstützung Kulturschaffender während der Pandemie. „Ich bin schon der Meinung, dass es eine staatsbürgerliche Pflicht ist, sich zu positionieren.“ Die Pflicht, den eigenen Weg zu gehen – und ihn zu verändern, wenn er in die falsche Richtung führt.
Auch in Bezug auf den Krieg, den das Land, in dem er einst geboren wurde, nun in Europa führt, zeigt Levit Haltung. Er hat Benefizkonzerte für die Ukraine mitorganisiert und einen offenen Brief mitunterzeichnet, der zur Lieferung schwerer Waffen aufrief. Aber er sagt: „Es ist ein verdammter Luxus, das tun zu können, ohne dass man Gefahr läuft, entweder ins Gefängnis zu wandern oder seine Familie in Gefahr zu bringen.“ Zur Freiheit gehöre auch die Freiheit zu schweigen, „mit Ausnahme für diejenigen, die lautstark diesen Faschismus in Russland verteidigen“.

Er selbst hat Morddrohungen erhalten, Ende 2019, er wurde beschimpft als „Judensau“, der man „das Maul stopfen“ werde. Daraufhin schrieb er in einem Beitrag für den „Tagesspiegel“: „Künstler und Intellektuelle sind Zustandsbeschreiber, emotionale Zustandsbeschreiber: Was da ist, ins Bild setzen, zu Gehör bringen, in Worte fassen, aussprechen. (…) Aber Musik ist kein Ersatz, kann kein Ersatz sein. Nicht für Wahrheit, nicht für Politik, nicht für Zwischen- und Mitmenschlichkeit. (…) Sie kann niemals Ersatz dafür sein, ein wacher, ein kritischer, ein liebender, ein lebender und aktiver Bürger zu sein.“
Igor Levit, in wenigen Tagen 36 Jahre alt, wird diesen Weg gewiss weitergehen, mal tastend, suchend, aber unbeirrbar. Er wird streben nach Frieden, Geborgensein und Sicherheit, und dies vielleicht eines Tages finden. Wäre das nicht herrlich?
Fred Hersch spielt seine Version von „Wouldn’t It Be Loverly“, online unter bit.ly/3Sbv1kg zu hören.