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Die apokalyptischen Reiter

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Leben, in Gedichten verdichtet, sorgfältig festgehalten.
Leben, in Gedichten verdichtet, sorgfältig festgehalten. © Privat

Ein Gedicht kann Kraft und Zuversicht geben, auch in Zeiten, in denen die Hoffnung schwindet: FR-Autorin Lia Venn hat eines im Tagebuch ihrer Großmutter gefunden - es klingt aus heutiger Sicht nahezu prophetisch.

Anneliese Matenaer schrieb das nachfolgende Gedicht im September 1991, unter dem Eindruck des Krieges im damaligen Jugoslawien:

Die apokalyptischen Reiter / Pest, Hunger, Krieg und Tod / von Dürer in Holz geschnitten / sie reiten wieder durchs Land / ins verglühende Abendrot / einer bedrohten Welt.

Sie kommen aus biblischen Zeiten / verbreiten Schrecken und Not / überall, wo sie wieder erscheinen / durchqueren die Dritte Welt / vor kurzem noch im Osten / jetzt näher schon im Westen / auf Europas blutgetränktem Boden.

Haltet ein, greift ihnen in die Zügel / treibt Roß und Reiter zurück! / Unheil, unsagbares Elend / Grausamkeit und Gewalt / haftet an ihren Hufen / das Unglück in Menschengestalt / schreit nach Erbarmen / macht Halt!

Hört auf das lautstarke Rufen / weinender Kinder, Mütter und Frauen / Krieg, Seuchen, Hunger und Tod / Flucht aus der Heimat / Verlust der Männer, Väter und Söhne / das nackte Grauen / es blickt uns fassungslos an. / Keine Liebe mehr und kein Vertrauen /
in menschliche Vernunft und Einsicht. / Bleibt da noch Hoffnung und Zuversicht / auf eine bessere Zukunft?

Ihr apokalyptischen Reiter / haltet ein / und kehrt zurück / in Dürers Schreckensbild / der Leiden sind genug!

Wir haben einen Traum / und die Vision von einer anderen Welt / in der wir sicher leben können / die auch noch unseren Kindeskindern / ein schützendes, bewohnbares / ein menschenwürdiges Zelt / und in gesunder Umwelt / als ihre Zukunft offenhält.

Wir haben einen Traum / wir brauchen die Vision / von einer neuen Welt!

Wir sind die Hoffnungsträger / uns ist es aufgegeben / der Anfang und die Wende / zu dieser Welt / dass wir und unsere Kinder, Enkel / in dieser neuen Welt / noch leben können, wie es Gott gefällt.

Anneliese Matenaer starb im Alter von 86 Jahren, auf ihrem Sofa sitzend, mit Bildbänden um sich herum und einem Zettel, auf den sie geschrieben hatte: „Mut für morgen.“
Anneliese Matenaer starb im Alter von 86 Jahren, auf ihrem Sofa sitzend, mit Bildbänden um sich herum und einem Zettel, auf den sie geschrieben hatte: „Mut für morgen.“ © Privat

FR-Ausgabe: Ein schwarzer Tag

Der russische Angriff auf die Ukraine markiert eine Zäsur. Wie der Krieg das Denken militarisiert und sich die Sicherheitslage in Europa verändert, untersucht die Themenausgabe der Frankfurter Rundschau vom 24. Februar 2023, der wir diesen Text entnommen haben. Weitere Aspekte daran:

Neue Normalität: Frieden wird die Ausnahme sein, sagt der Soziologe Richard Sennett.

Altes Denken: Wie der Militarismus einen Siegeszug durch unsere Köpfe angetreten hat.

Neuer Alltag: Stefan Scholl berichtet für die FR aus Moskau. Der Krieg hat sein Leben verändert.

Alte Ängste: Politologe Karl-Rudolf Korte über die Sorgen der Deutschen und ihr Krisenmanagement.

Neues Leben: Flucht aus Kiew, dann Neubeginn in Deutschland: Zwei Brüder berichten über ihr Jahr.

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Meine Oma wurde am 9. November 1909 in Kornelimünster bei Aachen in diese Welt geboren. Eine Woche später gab US-Präsident William H. Taft die Entscheidung bekannt, auf der Pazifikinsel Oahu (Hawaii) einen Marinestützpunkt einzurichten, um die strategische Position der USA im Südpazifik zu verbessern – nahe dem Fischereihafen Pearl Harbor. Am gleichen Tag, dem 14. November 1909, tagte in Brüssel eine Konferenz über die Kontrolle internationaler Waffenlieferungen nach Afrika. Tags darauf vergab die argentinische Regierung Aufträge für den Bau von zwölf Zerstörern an drei Werften in Europa, vier davon an deutsche Werften. 20 Tage später begann die US-Armee Tests mit einem zur Abwehr von Luftschiffen entwickelten Geschütz. Von 100 Schuss, die auf einen in 160 Metern Höhe stehenden Fesselballon abgegeben wurden, traf kein einziger.

Es war eine andere Welt, in die meine Oma geboren wurde, aber es war die Welt, aus deren Entscheidungen und Entwicklungen die heutige entstand. Irgendwo war immer Krieg, wurde einer vorbereitet, wurden Menschen in ihn verwickelt, in ihm verwundet und erschossen. Wie mein Opa, den ich nie kennengelernt habe. Meine Oma traf ihn in Bonn an der Universität und sie haben sich sehr geliebt. Als sie schon über 80 war, lächelte immer noch die junge Verliebte hinter den tiefen Furchen ihres Lebens, wenn sie von ihm erzählte. Nur drei Jahre waren sie verheiratet. Nach dem letzten Fronturlaub kam ein Brief mit seinem Ehering und seiner Brille; ein Granatquerschläger habe ihn in die Stirn getroffen, er sei sofort tot gewesen, in einem Schützengraben. In der heutigen Ukraine. Das Leben ist manchmal so grausam und zynisch wie der Tod. Dass meine Oma nach der Tochter, meiner Mutter, nochmal schwanger war, erfuhr mein Opa nicht mehr.

Sie wurde Lehrerin – und unsere Insel der Güte, Liebe und Kraft im Sturm der elterlichen Scheidung, den Wirren der Pubertät, den Ängsten vor einem Atomkrieg in den 1980ern. Ihr selbst gab die Gewissheit Kraft, ihren Mann wiederzusehen, sie war davon völlig überzeugt. Und Kraft gab ihr auch das Schreiben von Gedichten. Jede Krise wurde von ihr in Poesie gebannt. Immer wieder Kriege. Sie litt unter den menschlichen Aggressionen, verlor aber nie den Mut und die Zuversicht.

Mögen die russisch-apokalyptischen Reiter in der Ukraine, die apokalyptischen Reiter in Syrien, in all den Kriegs- und Krisengebieten die Kraft verlieren.

Fallt von den Pferden! Schlaft ein. Wacht nie mehr auf.

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