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Inhaftierter Journalist Ahmet Altan zu Corona: „Staaten verhindern menschlichen Fortschritt“

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Nach der kurzzeitigen Freilassung im November 2019, rechts Altans Tochter Sanem.
Nach der kurzzeitigen Freilassung im November 2019, rechts Altans Tochter Sanem. © AFP

Die Corona-Pandemie zeigt uns, dass das Konstrukt von „Staaten“ nichts taugt. Und noch viel mehr. Ahmet Altan schreibt aus der Haft.

In diesen Tagen in einem echten Gefängnis zu sein, während alle anderen in ihren Häusern eingesperrt sind, fühlt sich an, als säße man in einem Aquarium auf dem Meeresgrund. Wenn ich mir die Tageszeitungen anschaue, die man uns einen Tag zu spät bringt, nachdem sie 24 Stunden lang unter „Quarantäne“ gehalten wurden, und die wenigen Fernsehkanäle, die wir sehen dürfen, stelle ich fest, dass Ihr Euch draußen zu Tode sorgt.

Der Journalist Ahmet Altan (70) sitzt in der Corona-Krise im türkischen Gefängnis

Ich bin 70 Jahre alt und ich bin im Gefängnis. Ich weiß besser als die meisten von Euch, wie es ist, auf dem Meeresgrund zu sitzen und vom Tode angepeilt zu werden, und ich möchte Euch Folgendes sagen: Gebt nicht der Verzweiflung nach. Wir sind Zeitzeugen und sehen, wie die Geschichte entlang einer gigantischen Bruchlinie zerbricht, die das Leben selbst zum Zittern bringt. Dieser Bruch verspricht uns eine hoffnungsvolle Zukunft.

Ich bin mir der Schrecken bewusst, die jeder von uns im Moment erlebt. Wie Milliarden von Antilopen, die einen Fluss voller Krokodile überqueren, kämpfen wir wie verrückt darum, die andere Seite lebend zu erreichen. Es fühlt sich an wie ein Blick aus der Hölle. Doch in vier bis fünf Monaten wird diese Katastrophe vorüber sein und die Menschheit wird in eine neue Ära eintreten.

Das ist die Ordnung dieses seltsamen Planeten, den wir Erde nennen, ein Globus, der sich mit einer Geschwindigkeit von 100.000 Kilometern pro Stunde im Weltall dreht. Bessere Umstände werden nur durch Katastrophen erreicht. Wenn wir in Kriegen und Pandemien verwundet wurden, machten wir Fortschritte.

Ahmet Altan zu Corona: Das Konstrukt von „Staaten“ ist veraltet

Diese Katastrophe hat uns viele Wahrheiten gezeigt, die wir lange ignoriert haben. Sie weist uns auch den Weg zu unserem Ziel. Ich denke, das 21. Jahrhundert wird beginnen, wenn diese Pandemie vorüber ist. Eine Zeitlang mag es so aussehen, als würden wir rückwärts rutschen, aber das wird nicht lange so bleiben.

Diese Pandemie hat uns gezeigt, dass Konstrukte, die „Staaten“ genannt werden, zu nichts taugen. Diese Struktur ist ein Auslaufmodell. Es ist unnatürlich, dass wir immer noch ein Verwaltungssystem aus der Zeit der Pferdepostkutschen nutzen. Staaten verhindern menschlichen Fortschritt. Die Pandemie ist wegen der Fehler außer Kontrolle geraten, die Staaten und ihre Regierungen aus Gier nach Macht begangen haben. Hätte China nicht von vornherein gelogen und wären die Führer anderer Länder nicht so sorglos mit dem Virus umgegangen, hätte diese Geißel sich nicht derart ausgebreitet.

In nicht allzu ferner Zukunft wird die Welt zu einer Föderation von Stadtstaaten werden – sie wird erkennen, dass sie keine andere Wahl hat. Nationen, Grenzen und Flaggen wirken dem Wohl der Menschheit entgegen, wie wir es in dieser Krise erlebt haben.

Corona-Krise ist eine Generalprobe für eine große, historische Veränderung

Wir haben außerdem eine weitere Wahrheit gesehen: Die Fähigkeit, Wahlen zu gewinnen, und die Fähigkeit, eine Gesellschaft zu führen, sind völlig unterschiedlich. Sie stehen im Konflikt miteinander. Wahlen werden oft von denen gewonnen, die am meisten lügen, von denen, die einen epischen Soundtrack lauter als andere spielen. Aber diese Menschen sind nicht in der Lage, mit Weisheit zu führen. Es gibt jede Menge Beispiele für dieses Phänomen.

Diese Katastrophe war auch die Generalprobe für eine große, historische Veränderung: Arbeiter haben ihren gewohnten Platz in der Produktionskette verlassen. Dank des Internets ist der geistige Beitrag der Menschen an der Produktion gewachsen, während ihre physische Rolle deutlich abgenommen hat. Im 21. Jahrhundert werden die Menschen nicht mehr auf körperliche Arbeit beschränkt sein. Während wir diese Episode durchleben, begreifen wir, dass dieser Wandel unvermeidlich ist, und entdecken eine neue Wirtschaftsordnung.

Wir lernen, dass Menschen, die mehr Geld haben, als sie ausgeben können, und mittellose Obdachlose eine allgemeine Katastrophe auslösen können. Wenn man einen Marktarbeiter in China nicht retten kann, kann man auch den Premierminister in Großbritannien nicht retten.

Ahmet Altan zur Corona-Pandemie: „Wer sich selbst schützen will, muss andere schützen“

Dies könnte zu einer gewaltigen Umwälzung führen. Wer sich selbst schützen will, muss andere schützen. Wer egoistisch handelt, bringt sich damit selbst ums Leben. Vielleicht haben die Menschen noch nicht so klar erkannt, dass sie Teil eines großen Flusses sind, der Menschlichkeit genannt wird.

Dieser Virus streckt nicht nur alte Männer wie mich nieder, sondern auch veraltete Konzepte, Überzeugungen und Weltanschauungen. Es tut weh, aber wir überschreiten die Schwelle zu einer neuen Welt und, was noch wichtiger ist, zu einer neuen Art von Menschen.

Inmitten dieses großen Traumas blicke ich optimistisch in die Zukunft. Es ist keine Utopie, worüber ich hier schreibe. Das ist nicht der Fortschrittsglaube eines Trottels. Ich glaube daran, dass all dies geschehen wird, aber ich weiß, dass ich dann nicht mehr da sein werde. Ich schreibe dies, während ich in einer Gefängniszelle auf den heftigen Angriff eines Virus warte, der Menschen meines Alters tötet. Ich bin nicht optimistisch, was mich selbst betrifft, aber optimistisch für die Menschheit, der ich angehöre.

Ahmet Altan zu Corona: „Wir werden doch jetzt nicht verzweifelter sein als ein Rettich, oder?“

Im November erhielten wir zum Mittagessen Rettich. Mein Zellengenosse stellte diesen Rettich in einen Pappbecher und ließ ihn neben den Gittern am Fenster stehen. Der Rettich begann zu faulen. Kürzlich trieb er einen grünen Keim hervor. Er wuchs und wuchs. Am Ende des Sprosses blühten kleine weiße Blüten. Jeden Morgen, wenn ich aufstehe, betrachte ich sie. Ich sehe das als Bild: Der Rettich stirbt und wird gleichzeitig lebendig. Ein armseliger Rettich schafft Blüten aus seinem eigenen Zerfall heraus. Ohne seinen Optimismus aufzugeben, streckt er die Hand nach der Zukunft aus, während er stirbt.

Vielleicht bin ich schon krank geworden, wenn Ihr dies lest. Aber was macht das für einen Unterschied? Wenn ein Rettich, der in einem Pappbecher stirbt, blühen kann, kann ein alter Mann im Gefängnis optimistisch sein. Wir werden doch jetzt nicht verzweifelter sein als ein Rettich, oder?

Übersetzung aus dem Englischen: Pitt von Bebenburg

Der Hintergrund zum Autor Ahmet Altan

Ahmet Altan gehört zu den bekanntesten Schriftstellern und Journalisten der Türkei. Er sitzt seit weit mehr als drei Jahren im Gefängnis und schildert seine Erlebnisse in dem 2018 erschienenen Buch „Ich werde die Welt nie wiedersehen“. Er wurde im vergangenen Jahr mit dem Geschwister-Scholl-Preis ausgezeichnet. 

Die Türkei hält den 70-jährigen Autor wegen abstruser Vorwürfe gefangen. Der Hauptvorwurf lautet, Altan habe am Vorabend des Putschversuchs von 2016 in einer Fernsehsendung „unterschwellige Botschaften“ ausgesandt. Im vergangenen Jahr kassierte das Oberste Berufungsgericht der Türkei seine Verurteilung wegen angeblicher Pläne zum Umsturz der Verfassung. Altan blieb aber in Haft. Er soll sich nun wegen angeblicher Hilfe für die Gülen-Bewegung vor Gericht verantworten, die von Staatschef Recep Tayyip Erdogan für den Putschversuch verantwortlich gemacht wird. 

Im September 2016 war Ahmet Altan inhaftiert worden. Im November 2019 wurde der Journalist freigelassen, nur um nach acht Tagen erneut ins Gefängnis gebracht zu werden. Altan sitzt im Istanbuler Gefängnis Silivri ein, wo zahlreiche politische Gefangene inhaftiert sind.

Das Coronavirus hat sich in dem Gefängnis stark verbreitet. Nach offiziellen Angaben haben sich 82 Insassen infiziert, einer ist daran gestorben. 

Die Frankfurter Rundschau macht sich seit 2017 in einer Solidaritätsaktion für inhaftierte Partnerjournalisten in der Türkei ein, darunter für Ahmet Altan. Die Türkei zählt zu den Ländern, in denen Journalisten massiv drangsaliert und inhaftiert werden.

pit

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