Cannes feiert das deutsche Kino

Cannes wird 70 Jahre alt und aus deutscher Sicht ist diesmal alles anders. Denn gleich zwei deutsche Beiträge sind im Rennen um renommierte Preise.
Es ist schon eine seltsame Vorstellung, auch in diesem Mai wieder zehn Tage nach Cannes zu blicken, um über Regisseure und Filmstars zu reden, wenn der große französische Film derzeit ganz woanders spielt. Das faszinierendste Gesicht der Stunde gehört fraglos Emmanuel Macron, dessen jungenhaftes Lächeln auf jene seltsame Art in den Bann schlägt, wie wir das sonst nur aus Filmen kennen: Wo allein die Präsenz eines Stars Erwartungen weckt an eine Story, die – wenn sie überhaupt einem Drehbuch folgt – nicht einmal in Grundzügen vorauszuahnen ist. Und da sollen wir statt nach Paris lieber an die Côte d’Azur schauen, wo nun zum 70. Mal das Gleiche geschieht?
Aus deutscher Sicht allerdings ist es diesmal schon ein wenig anders. Der Hamburger Fatih Akin hat es in den Wettbewerb um die Goldene Palme geschafft, die Berlinerin Valeska Griesebach in die ebenfalls hoch renommierte Konkurrenz „Un Certain Regard“. Beide rechtfertigen große Erwartungen; Akin steht seit seinem 2004er Berlinale-Gewinner „Gegen die Wand“ für verwegen-emotionales und doch publikumsfreundliches Kino. Sein neuer Thriller „Aus dem Nichts“ ist ein psychologischer Genrefilm, der sich auch als großes Starkino für den roten Teppich empfohlen hat. Diane Kruger spielt eine Frau, die nach dem Tod ihrer Familie bei einem Bombenanschlag von der Trauernden zur Rächerin mutiert. Eine delikate Gratwanderung, gerade in Frankreich dieses Thema anzuschlagen, das sich nach den vergangenen Terroranschlägen noch immer im Ausnahmezustand befindet.
Die 49 Jahre alte Valeska Griesebach gilt dagegen noch immer als Geheimtipp. „Sehnsucht“, ihr letzter Spielfilm als Regisseurin, liegt schon elf Jahre zurück, doch vergessen konnte man die Nahaufnahme eines depressiven Feuerwehrmanns kaum. Es ist einer der echten Klassiker der sogenannten Berliner Schule. Ihr jetziger Beitrag „Western“, produziert von Maren Ade, ist erst ihr dritter Film als Regisseurin und abermals ein männliches Psychogramm. Es geht um eine Gruppe deutscher Baurbeiter, die in den rauen Landschaften zwischen Bulgarien und Griechenland den Duft von Freiheit und Abenteuer schnuppern.
Die Offiziellen in Cannes setzen auf die Deutschen
Seit im April der deutsche Filmpreis in den drei Hauptkategorien an Regisseurinnen vergeben wurde, ist die führende Rolle weiblicher Filmschaffender in diesem Land nicht mehr zu übersehen, zumindest was den anspruchsvollen Film angeht. International hat „Toni Erdmann“, der Cannes-Beitrag von vorigem Jahr, an dem Valeska Griesebach als Drehbuchberaterin mitwirkte, große Erwartungen geweckt.
Gut möglich, dass ohne diesen Film auch in diesem Jahr kein deutscher Film in Cannes zu sehen wäre, denn bei Filmfestivals gilt das Gesetz der Serie gleichermaßen: Auch wenn „Tony Erdmann“ dort keinen Preis gewann, wurde er zum Kritikerliebling und brachte durch seine liebenswerte Originalität das deutsche Kino überhaupt erst wieder auf die Agenda.
Dankenswerterweise spielt Cannes’ Programmchef Thierry Frémaux dieses Spiel mit, indem er auf die deutsche Karte setzt, so wie er in der Vergangenheit schon das rumänische und das griechische Kino etablieren konnte. Auch für ihn ist es ein Glücksspiel, denn nur, wenn sich die Erwartungen bestätigen, kann er sich auch seines guten Riechers rühmen und das deutsche Kino an dessen Glanzzeiten in den 70er Jahren anknüpfen lassen – als Rainer Werner Fassbinder, Wim Wenders und Werner Herzog in Cannes zu den Stammgästen zählten.
Talente gibt es genug; was fehlt, ist ein Bewusstsein für die Filmkunst im eigenen Land. Seit Mitte der 80er setzte die deutsche Filmförderung zunehmend auf populäre Genres – der sogenannte Autorenfilm geriet dabei in Verruf. Nun muss ein Umdenken einsetzen, sonst lässt sich die freundliche Erwartung der internationalen Filmwelt nicht erfüllen. Und natürlich möchte Cannes dabei die Rolle des Geburtshelfers spielen, was wiederum die Berlinale schwächen wird. Die jedoch hat unter der Leitung von Dieter Kosslick so viele wichtige Tendenzen im Weltkino verschlafen, dass eine Neuorientierung dort eh unvermeidlich ist. Die als wahrscheinlich geltende Neubesetzung des Direktorenpostens nach 2020 ist eine der wichtigsten kulturpolitischen Entscheidungen der nahen Zukunft.
Das Festival von Cannes war lange Zeit berüchtigt für seine Missachtung des deutschen Films. Wie sich doch die Zeiten ändern: Nach dem Sensationserfolg von „Toni Erdmann“ steht das Festival plötzlich da als gute Fee des lange ungeliebten Kinonachbarn. Das deutsche Kino steht in Cannes am Scheideweg. Auch wenn sie als Künstler ganz andere Sorgen haben: Fatih Akin und Valeska Griesebach werden mit ihren Filmen darüber entscheiden, ob Deutsche wieder dauerhaft im Weltkino mitspielen. Und was es noch spannender macht: Einige der größten Regisseure des Weltkinos stehen mit ihnen im Ring.
Allen voran der Österreicher Michael Haneke, der mit „Happy End“ zum ersten dreifachen Gewinner der Goldenen Palme werden könnte. Sein großbürgerliches Familiendrama, eine französisch-deutsch-österreichische Koproduktion, wartet mit Stars wie Isabelle Huppert und Jean-Louis Trintignant auf.
Amerikaner warten mit Überraschungen auf
Große Chancen, den Preis endlich erstmals zu gewinnen, hat der Amerikaner Todd Haynes, der schon Meisterwerke in Serie geschaffen hat. Nach dem lesbischen Liebesdrama „Carol“ weckt seine Literaturverfilmung „Wonderstuck“, die größten Erwartungen: In parallelen Handlungssträngen erzählt er von zwei Jungen verschiedener Epochen, die ihre Leben in die eigenen Hände nehmen wollen.
Auch Sofia Coppola hat sich auf eine Zeitreise begeben. Ihr Südstaaten-Drama „The Beguiled“ ist ein Remake des gleichnamigen 1971er Don-Siegel-Films, mit Clint Eastwood. Schauplatz ist ein Mädchenpensionat, das einen verwundeten Soldaten aufnimmt – und bald zum Schauplatz gespenstischer Spannungen wird. Um kundiges Publikum muss sich Coppola nicht sorgen: Auch Clint Eastwood, der Hauptdarsteller der Vorlage, kommt zum Festivaljubiläum für die ungemein seltene Gelegenheit eines zweistündigen Werkstattgesprächs. Wer also auch immer am 28. Mai die Goldene Palme mit nach Hause nimmt und wie die Reise des deutschen Kinos dabei weitergeht – der Weg nach Cannes lohnt sich garantiert.