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„Der größte Feind der Meinungsfreiheit ist unsere Untätigkeit“

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Von: Alexander Skipis

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Der Regenschirm ist zum Symbol der Freiheitsbewegung in Hongkong geworden. Das Foto vom 15. September 2019 zeigt Demonstranten, die sich mit Schirmen vor Tränengas und Wasserkanonen zu schützen versuchen.
Der Regenschirm ist zum Symbol der Freiheitsbewegung in Hongkong geworden. Das Foto vom 15. September 2019 zeigt Demonstranten, die sich mit Schirmen vor Tränengas und Wasserkanonen zu schützen versuchen. © afp

Die Buchmesse in Frankfurt soll dem weltweiten Kampf für Bürgerrechte eine Plattform bieten. Zum Auftakt stellt die Branche der Politik ein vernichtendes Zeugnis aus.

Vom Lesen der Zeitung kann einem in den vergangenen Wochen leicht schlecht werden. An der Grenze zwischen Türkei und Syrien lassen wir die Kurden mal wieder im Stich. Und das, obwohl sie in den vergangenen Jahren mutig und verlässlich an vorderster Front gegen die religiösen Fanatiker des IS und für die Interessen Deutschlands gekämpft haben und ein bemerkenswertes Beispiel dafür sind, wie man in einer von Unfreiheit geprägten Umgebung demokratische Werte leben kann. Die EU „verurteilt“ wie so oft die Vorgänge, sieht aber doch größtenteils tatenlos zu.

Zur selben Zeit sitzt in Saudi-Arabien immer noch ein junger Mann im Gefängnis, der es gewagt hat, über demokratische Reformen in seinem Heimatland nachzudenken, und der diese Gedanken in einem Blog zur Diskussion gestellt hat. Raif Badawi wurde 2012 zu zehn Jahren Haft und 1000 Peitschenhieben verurteilt.

Und erst vor wenigen Tagen jährte sich auch der grausame Mord an dem saudischen Exiljournalisten Jamal Khashoggi im saudischen Konsulat in Istanbul. Ungeachtet dieser Vorfälle hat Deutschland im Jahr 2018 Waffen im Wert von 416.423.547 Euro an Saudi-Arabien geliefert. Das ist eine Steigerung von 63,6 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Der zwischenzeitliche Waffenexportstopp wird seit über einem halben Jahr wieder zur Disposition gestellt.

Fälle wie diese gab es in den vergangenen Jahren und Monaten zuhauf. Die Politik sieht über die Verletzung von Menschen- und Freiheitsrechten in anderen Ländern hinweg, weil wirtschaftliche und geostrategischer Erwägungen Priorität haben. Und die Zivilgesellschaft schaut größtenteils sprach- und tatenlos zu. Können wir es uns noch leisten, angesichts des dramatischen Zustands der Menschen- und Freiheitsrechte in vielen Ländern den Mund zu halten und Politik an einige wenige „Experten“ zu delegieren? Und sind nicht wir, die Buch- und Kulturbranche, die den Anspruch hat, einen wesentlichen Beitrag zum Gelingen einer freien, demokratischen Gesellschaft zu leisten, jetzt besonders gefragt?

Wo bleibt der Aufschrei der Bevölkerung über Fälle wie Badawi und Kashoggi?

Das deutsche Grundgesetz ist in diesem Jahr 70 Jahre alt geworden. Dieses bedeutende Bekenntnis zur Meinungs-, Presse-, Religions- und Versammlungsfreiheit aber entfaltet sowohl in der Politik wie auch in großen Teilen der Öffentlichkeit allenfalls Wirkung innerhalb unserer Grenzen. Nach dem Motto: Hauptsache, uns geht es gut und wir können hier in Freiheit und Wohlstand leben. Und genau das schlägt sich dann auch in der Außenpolitik und in der öffentlichen Lethargie gegen Menschenrechtsverletzungen anderswo nieder.

Zur Person
Alexander Skipis ist Hauptgeschäftsführer des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels.

Wo bleibt der Aufschrei der Bevölkerung über die Nähe der Bundesregierung zu Saudi-Arabien? Wie vielen Bürgerinnen und Bürgern geht das Schicksal von Khashoggi überhaupt noch nahe? Wo bleibt der Aufschrei über die Verhaftung von fünf Deutschen jüngst in der Türkei?

Die Fälle Badawi und Khashoggi sind schreckliche Einzelschicksale, aber sie sind auch Teil einer größeren historischen Tendenz. Seit Jahren führt uns etwa Reporter ohne Grenzen mit der Weltkarte der Pressefreiheit eindrucksvoll vor Augen, dass sich die Lage der Meinungs- und Pressefreiheit auf der Welt, auch in Europa, insgesamt verschlechtert. Das liegt daran, dass sich immer mehr Regierungen auf der Welt zu autokratischen Staaten entwickeln. Dabei ist die Kontrolle der Politik durch freie Medien und Kommentatoren eine der zentralen Bedingungen für den Meinungsbildungsprozess in einer Demokratie.

Unterdrückung der Meinungsfreiheit ist Indikator für Weg in einen Unrechtsstaat

Nur wenn die Bürgerinnen und Bürger wissen, was ihre Regierung tatsächlich tut, können sie sich frei dazu entscheiden, wie sie sich dieser Regierung gegenüber verhalten wollen. Deshalb ist die Unterdrückung der Meinungs- und Publikationsfreiheit immer der erste Indikator für den beginnenden Weg in einen totalitären Unrechtsstaat und der Etablierung autokratischer Herrscher. Im internationalen Vergleich ist unsere Bundesregierung immer noch bemüht, hin und wieder eine gewisse Distanz zu den Tyrannen dieser Welt zu halten. Ganz anders sieht das beim amerikanischen Präsidenten aus. Der chinesische Staatspräsident ist für Donald Trump „mein guter Freund Xi“, der bestimmt in der Lage sei, eine „schnelle und menschliche Lösung für das Hongkong-Problem“ zu finden. Was Trump als das „Hongkong-Problem“ bezeichnet, ist das Aufbäumen der Bevölkerung gegen massive Eingriffe in ihre Bürger- und Menschenrechte, allen voran die Meinungsfreiheit.

Gerade für Buchhändlerinnen und Buchhändler, Verlegerinnen und Verleger, Autorinnen und Autoren, Journalistinnen und Journalisten genauso wie für alle Kunst- und Kulturschaffenden etwa in Schauspiel, Musik oder bildender Kunst ist das Recht auf freie Meinungsäußerung von ganz besonderer persönlicher Bedeutung. Es gibt ihnen die Freiheit, ihren Beruf so auszuüben, wie sie es wollen, ohne sich darüber Gedanken machen zu müssen, dafür im Gefängnis landen zu können. Und deshalb reagieren wir aus dem Kulturbetrieb besonders empfindlich darauf, wenn Kolleginnen und Kollegen verfolgt und angegriffen werden, nur weil sie das sagen und verbreiten, woran sie glauben.

Mit Mahnwachen und Petitionen aufmerksam machen

Das hätten wir sein können! Also zeigen wir öffentlich durch Aktionen, Petitionen, Lesungen, Artikel und vieles mehr unsere Solidarität mit ihnen.

Der Börsenverein des Deutschen Buchhandels hat in den vergangenen drei Jahren einige Maßnahmen ergriffen, um auf den Wert der Meinungsfreiheit und die Situation verfolgter und inhaftierter Kunst- und Kulturschaffender aufmerksam zu machen: etwa mit einer Mahnwache in Istanbul vor dem Gefängnis, in dem die Autorin Asli Erdogan inhaftiert war, oder der Petition #FreeWordsTurkey.

Wir haben damit immer unsere Forderung an die Bundesregierung und die EU verbunden, in dem fast zynischen Interessenabwägungsprozess zwischen wirtschaftlichen, geostrategischen und Machtinteressen einerseits und den Menschenrechten wie der Meinungsfreiheit andererseits, letzteren mehr Vorrang zu gewähren. Diese sind für uns nicht verhandelbar!

Buchmesse in Frankfurt steht für Meinungs-, Presse- und Publikationsfreiheit

Auf der diesjährigen Frankfurter Buchmesse werden wir in diese Richtung hin fortfahren. Die Buchmesse steht sinnbildlich für Meinungs-, Presse- und Publikationsfreiheit und ist dafür prädestiniert, ein Ort des freien Dialogs, Austauschs und der Kooperation über nationale Grenzen hinweg zu sein. Wir werden zum Beispiel mit Deniz Yücel und der norwegischen Außenministerin Ine Eriksen Søreide darüber diskutieren, wie wir Betroffene staatlicher Willkür im Ausland wirkungsvoll unterstützen können.

Ganz praktisch für Meinungsfreiheit eintreten werden wir mit zahlreichen Partnern am Donnerstag, 17. Oktober, um 13.30 Uhr, mit einer Mahnwache für den inhaftierten Autor, Verleger und Buchhändler Gui Minhai auf der Agora des Messegeländes. Der schwedische Staatsbürger wurde vor vier Jahren nach China verschleppt, weil er in Hongkong Literatur veröffentlicht und verkauft hat, die sich mit dem Privatleben der führenden chinesischen Politiker befasst. Als er inhaftiert wurde, arbeitete er gerade an einem Buch über Xi Jinping.

Wir greifen bei der Mahnwache das Symbol der Hongkonger Freiheitsbewegung auf und wollen mehrere Hundert Regenschirme aufspannen. Alle Messebesucher sind eingeladen, gemeinsam mit uns in Frankfurt ein Zeichen der Meinungsfreiheit und Solidarität zu setzen, das um die Welt geht.

Buchmesse in Frankfurt kann nur ein Anfang sein

Die Buchmesse kann nur ein Anfang sein. Wir dürfen die fortschreitende Resignation weiter Teile unserer Gesellschaft in puncto Menschenrechte nicht akzeptieren. Als Organisationen, Initiativen, Persönlichkeiten und Künstler, denen das Recht auf freie Meinungsäußerung besonders am Herzen liegt, müssen wir geschlossen auftreten und möglichst mit einer Stimme sprechen. Nur gemeinsam sind wir in der Lage, ihren Wert und ihre international fortschreitende Missachtung stärker ins öffentliche und politische Bewusstsein zu rücken. Wir sollten alle zu einem gemeinsamen, klaren Bekenntnis zur Demokratie und Meinungsfreiheit zusammenkommen.

Außerdem sollten wir mit gemeinsamen Aktionen verdeutlichen, warum wir das tun. Dazu sollten wir die Vielfalt der kulturellen Erscheinungsformen in unserem Land, die ohne die Kunst- und Meinungsfreiheit überhaupt nicht denkbar wäre, gebührend feiern. Mit solch einer gemeinsamen Anstrengung würden wir nicht nur das Bewusstsein für die Bedeutung der Meinungsfreiheit in der Zivilbevölkerung schärfen, sondern könnten auch gegenüber der Politik einen größeren Druck ausüben. Sie wird ihre Außenpolitik nur im Sinne der Menschenrechte anpassen, wenn möglichst viele Menschen in unserem Land dies möglichst laut fordern.

Die Politik muss sich jetzt entscheiden, ob und wie sie der Meinungsfreiheit in der Welt Geltung verleihen will. Ein „Weiter so“, ohne klar Position zu beziehen und dies als „diplomatisches Geschick“ zu verkaufen, gefährdet die Menschenrechte weltweit und gibt Despoten und totalitären Herrschern den Raum, den sie für die Unterdrückung der jeweiligen Völker beanspruchen. Als Zivilgesellschaft und Kulturszene tragen wir die Verantwortung dafür, der für uns existenziellen Meinungsfreiheit Geltung zu verschaffen. Wir müssen jetzt unsere Kräfte bündeln, um zu erreichen, dass in den Interessenabwägungsprozessen die Meinungsfreiheit nicht gegenüber Wirtschafts- und Machtinteressen das Nachsehen hat. Der größte Feind der Meinungsfreiheit ist unsere Untätigkeit.

Die Frankfurter Buchmesse

Am kommenden Mittwoch (16.10.) beginnt in Frankfurt die größte Buchmesse der Welt. Von Mittwoch bis Freitag sind nur Fachbesucher zugelassen, am Samstag und Sonntag öffnen sich die Tore auch für das allgemeine Publikum. Dann können auf dem gesamten Messegelände Bücher und Medien auch gekauft werden.

Norwegen ist Ehrengast der Messe in diesem Jahr. Das Land präsentiert sich im ersten Stock des Messe-Forums. Die norwegische Kronprinzessin Mette-Marit kommt am Dienstag, 15. Oktober, um 14 Uhr, mit einem „Literaturzug“ auf dem Frankfurter Hauptbahnhof an. Im Zug sind Autorinnen und Autoren aus Norwegen, aber auch Schulkinder.

Die Frankfurt Rundschau veröffentlicht am Dienstag, 15. Oktober, ihre Beilage „Literatur Rundschau“. Auf zwölf Seiten stellen wir Bücher vor und haben für die Beilage auch ein langes Gespräch mit der Autorin Nora Bossong geführt. (jg/vf)

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