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Der baltische Bernstein im Grab des Pharao

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Von: Christian Thomas

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Tutanchamun - in seinem Grab fand sich ein Skarabäus aus Bernstein, baltischem Bernstein.
Tutanchamun - in seinem Grab fand sich ein Skarabäus aus Bernstein, baltischem Bernstein. © imago

Der Bernstein machte den Menschen der Bronzezeit vor 3500 Jahren mobil – und das auf einer Route von 5000 Kilometern, zwischen der Ostsee und dem Nil.

An dem einen oder anderen Punkt des Weges, das war Jahrtausende lang eine beunruhigende Tatsache, musste der Reisende mit der Möglichkeit rechnen, dass Unvorhergesehenes passierte. Räuber brachen aus dem Hinterhalt hervor, ein Unwetter aus heiterem Himmel herein. Wildfremde Dinge stellten sich wie selbstverständlich in den Weg. Sehr selten war es, dass eine Kostbarkeit zum Stolpern brachte. Als Fachleute für Fernreisen durch Raum und Zeit, sind es die Archäologen, die noch heute mit der Überraschung und dem Zufall leben, und sie tun es gern, ja, sie richten sich regelrecht ein im Unvermuteten. Auch stolpern sie, trotz systematischem Vorgehen sonst, immer wieder gern über Kostbarkeiten.

Auf diese wie auch jene Weise ist auch die Bernsteinstraße wiederentdeckt worden, nicht lückenlos, denn dazu ist sie mit ihren über 5000 Kilometern viel zu lang. Wohl aber ist es in den letzten Jahren gelungen, Belege für einzelne ihrer Etappen zu einer Indizienkette aufzufädeln, für eine Handelsroute vor 3?500 Jahren, auf der der Bernstein von Hand zu Hand ging, von Ägypten bis ins Baltikum.

Magischer Stein

Zu den erstaunlichen Potenzialen des Bernsteins zählte, dass er nicht nur physikalisch verblüffte. Der Stein war magisch, und der magische Stein schuf Mythen. Der Stein verlieh Macht. Der Bernstein machte den Menschen der Bronzezeit mobil.

Die Rolle, die der Bernstein spielte, war eine wohlgemerkt aufsehenerregende Rolle. In diesen Tagen darf man hinzufügen: auch als eine Art früheuropäischer Währung. Dafür, dass sich dieses Wissen stark ausdehnt, ist in den letzten Tagen viel getan worden. Das Rowohlt-Buch „Die Bernsteinstraße“ nimmt den Untertitel „Verborgene Handelswege zwischen Ostsee und Nil“ auf vielseitige Weise ernst. Irgendwann heißt es: „Dieser ,Stein‘ ist ein wahrer Tausendsassa. Er brennt, er schwimmt, er duftet, er entwickelt die im Wortsinn haarsträubende „vis electrica“, leitet jedoch keinen Strom. Ab etwa 170 Grad Celsius wird er weich.“

Es ist das Buch zu einem ZDF-Zweiteiler, und nachdem am vergangenen Sonntag bereits die Bernsteinroute ein Thema im Rahmen der Serie „Terra X“ war, ist die Folge an diesem Wochenende abgeschlossen worden (14. und 21. Oktober). Der ZDF-Abend wird nach Bernstorf in Bayern führen, an einen der „Schlüsselorte“ der Bernsteinroute. Denn in diesem Ort nördlich von München, bei Freising, kristallisierte sich ein Umschlagplatz der Bernsteinverbindung heraus, eine Drehscheibe bronzezeitlicher Handelsbeziehungen, diesseits und jenseits der Alpenbarriere.

Bernstorf - eine Metropole der Bronzezeit

Die Reste von Bernstorf sind in den letzten Jahren systematisch erkundet worden. Bernstorf, als archäologischer Jahrhundertfund viel zu unbekannt, so dass man diesen Ort gar nicht häufig genug erwähnen kann: Bernstorf war tatsächlich eine befestige Anlage, 1,6 Kilometer lang, dafür wurden 40.000 Eichenstämme gefällt, bearbeitet und zu einer lückenlosen Palisade aufgepflanzt. Auch haben Archäologen rekonstruiert, dass diese Metropole der Bronzezeit auf einen Schlag unterging, in einem flammenden Inferno, das höchstwahrscheinlich kultisch motiviert war, als ein nicht zu übersehendes Opfer an die Götter.

Bernstorf, die versunkene Stadt an den Ufern der Amper, brachte gleich mehrere Sensationen ans Licht, Gold aus der Wüste Nubiens in Oberägypten; einen Kopfschmuck, der an die Formen im griechischen Mykene erinnert; ein Bernsteinsiegel mit mykenischen Schriftzeichen; nicht zuletzt ein Bernsteinschmuckstück mit einem eingeritzten Porträt. Das hat, verblüffend, in der Tat, Ähnlichkeiten mit dem Antlitz auf der legendären Goldmaske des Agamemnon, wie sie Heinrich Schliemann in Mykene barg. Sagenhaftes Bernstorf. Auch nördlich der Alpen hatte die Umtriebigkeit der Bronzezeit eine Metropole hervorgebracht.

Über Bernstorf, diesseits und jenseits des Brenner, dem Fernhandelspass über die Alpen, und Brenner, so glauben es Sprachforscher, leite sich ja ab von Brennstein/Bernstein: Über das untergegangene Bernstorf gingen seit dem 19. Jahrhundert sagenhafte Geschichten um, die ein Hobbyarchäologe in den 1990er-Jahren ernst nahm. Und tatsächlich, auch er stolperte, anfangs über eingestanzte Dreiecke. Über Gold, und das Gold löste eine Kettenreaktion aus. Was bisher umständlich war, beschleunigte sich rasant.

Wie es sich für große Erzählungen gehört, nehmen sie vielerlei Umwege – Zeit also, um auch einige Worte über die Art dieser Terra-X-Doku zu verlieren. Diesmal hieß es am Anfang: „Gibt es etwa eine uralte Verbindung zwischen der Wüste und dem Nebelland, dem Nil und der Ostsee?“ Aber natürlich, murmelte der ZDF-Zuschauer, den Trailer sehend, den Fernseher annickend. Denn als erfahrener Terra-X-Zuschauer weiß er die Trailerfragen einer Archäologie-Doku, die wie alle großen Menschheitsfragen am Anfang aller Menschheitsrätsel stehen, rhetorisch zu nehmen.

Gisela Graichen, die mit der Archäologiereihe „Schliemanns Erben“ und der Serie „Humboldts Erben“ große ZDF-Erfolge feierte, nutzt gemeinsam mit Peter Prestel die Möglichkeiten der Doku-Fiction. Greichen, zugleich die Autorin der Rowohlt-Veröffentlichung, ließ zwei Expeditionen aufbrechen, eine fiktive am ägyptischen Hofe, 3500 Jahre alt, und eine im Jahr 2012, die sich auf die Fersen des Archäologen Timo Ibsen aus Schleswig heftet.

TV-Doku legt falsche Fährte

Zwei Wanderungen überschneiden sich, eine historisch rekonstruierte und eine hochmotorisierte. Ibsens Reise im VW-Bus repräsentiert das Roadmovie (während Tom Petty „Into the great wide open“ singt). Bei den historischen hat man sich einmal mehr auf die literarische Arbeitsteilung von allwissendem und Ich-Erzähler verständigt – insgesamt das Prinzip des Reenactments.

Die Wiederbelebung durch szenisches Erzählen mittels Einfühlung suggeriert Authentizität, doch ärger noch als der schauspielerische Dilettantismus und die Dialoge ist die Tatsache, dass die Trivialisierung auf viele falsche Fährten führt. Wenn die TV-Bronzezeitakteure von den „Tränen der Götter sprechen“, dann ist es das gute Buch, das dem Leser sagt, dass es der Römer Ovid war, der die Metapher aufbrachte. Bis dahin waren noch 1300 Jahre Zeit.

Bei der Terra- X-Sendung muss man gewappnet sein gegen Banalisierung und Trivialisierung (und die bedeutet natürlich nicht den Untergang des Abendlandes, nein, es ist viel schlimmer, die Trivialisierung führt zu einer Banalisierung des Auftakts des Abendlandes.) Dem Buch muss man brav folgen, wenn es durch Raum und Zeit mäandert, von der Bronzezeit, durch die (mittelalterliche) Wikingerzeit, wenn es die Spur des barocken Bernsteinzimmers aufnimmt, geht es von Ostpreußen bis nach St. Petersburg, dann verliert sich die Spur, ja, sicher.

Bernstein, so lesen wir, war der „Treibstoff“ (treffliches Wort!) für einen gewaltigen gesellschaftlichen Wandel, der für die bisher eher homogenen Arbeitsbedingungen der Bronzezeit die Spezialisierung durchsetzte, damit soziale Unterschiede heraufbeschwor, mit der Arbeitsteilung wiederum eine Hierarchisierung, durch die Arbeitsteilung zugleich eine verbesserte Organisation des Lebens. Mit der Kultivierung erträglicherer Lebensverhältnisse einher ging eine Horizonterweiterung. Sie galt dem Himmel und der Erde, den Göttern und der Weltfremde. In den Sternen standen die Antworten auf die Aussaat und die Ernte, wie auf der Himmelsscheibe von Nebra fixiert, die den Stand der Plejaden, damit babylonische Erkenntnisse des Siebengestirns bis nach Mitteldeutschland importierte.

Skarabäus aus baltischem Bernstein

Mit dem Bernstein, leicht genug, um ihn zu tragen, um ihn zu verfrachten oder zu verschiffen, weich genug, um ihn zu teilen, etwa in Währungseinheiten, zogen die Waren, die Waffen und das Wissen auch durch Nebra – wie überhaupt durch die damalige Welt. So kam es, dass im syrischen Qatna ein Löwenköpfen aus Bernstein im Grab eines Herrschers hinterlegt wurde. Bernstein, der Könige schwach werden ließ, erhöhte das Prestige der Fürsten der Bronzezeit. So kam es, dass Howard Carter (der Carter: der Choleriker und Archäologe) 1922 in der Grabkammer des Tutanchamun einen Skarabäus aus dunklem Harz vorfand – einen Käfer aus Bernstein baltischen Ursprungs.

Bernstein, der Stein, der gar keiner ist, vielmehr eine fossile Substanz aus der Weltferne von rund 50 Millionen Jahren, verband die Enden der damals bekannten Welt. Im Spülsaum der Ostsee aufgelesen, beschleunigten Bernsteinliebe und Bernsteinhandel die bronzezeitliche Globalisierung. Das sagt sich sehr leicht dahin, wo doch eigentlich, bei näherer Beschäftigung mit der Bernsteinstraße, rasch klar wird, welche Strapazen mit jeder Etappe der Bernsteinconnection verbunden waren, und das nicht nur auf dem Sinai oder in den Schneewüsten der Alpen.

Unwetter und Räuber

„Straße“ ist sicherlich eine sehr optimistische Bezeichnung, Route ist auf jeden Fall angemessener für eine Spur der Steine, die Bronzezeitmenschen in den Alpen oder im brandenburgischen Eberswalde auslegten, hier eine Kette, dort gar ein Depot. Film und Buch legen sich bei der Wegstrecke übrigens weitgehend auf die „Ostroute“ fest; es gab, etwa mit der Atlantik, Ärmelkanal- und Nordseeroute oder der Kaukasusroute auch andere Wegenetze als die typisch „deutsche“ nördlich der Alpen. Doch hier wie überall auf den Bernsteinverbindungen ging der wunderbare „Stein“ von Hand zu Hand, ohne dass diese Kulturtechnik über Tausende von Kilometern abriss.

Ja, sicher, immer wieder konnte der Punkt erreicht sein, dass auf der Bernsteinroute Unvorhergesehenes passierte. Ein Unwetter, Räuber. Die Wildfremde begegnete auf Schritt und Tritt. Auch die Bernsteinroute war eine Entdeckung, die über Schicksalsschläge stolpern ließ. Eine Erklärung dafür, dass das Routen-Ganze, bei allen Lücken im Detail, jedoch sehr effizient geregelt war, verbirgt sich hinter unserem Begriff Logistik. Im Grunde ist die Bernsteinroute ja nur staunend zu verstehen. Oder durch Entzauberung.

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