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Angriff auf das Zentrum

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Baukräne allenthalben: Auf diesem Foto kann man die städtebauliche Vermischung von alt und neu gut erkennen.
Baukräne allenthalben: Auf diesem Foto kann man die städtebauliche Vermischung von alt und neu gut erkennen. © Getty

Mit ihrem Programm einer "urbanen Renaissance" hat die Labour-Regierung die Wohnungsnot verschäft. Die Konservativen wollen nun 50.000 bezahlbare Wohnungen bauen. Ein Tropfen auf dem heißen Stein.

Ein gerüttelt Maß an trotzigem Optimismus gehörte wohl zu allen Zeiten zur mentalen Grundausstattung eines Londoner Bürgermeisters. Boris Johnson, seit Mai 2008 im Amt, lässt jedenfalls keine Gelegenheit ungenutzt, der Welt zu demonstrieren, dass die Finanzmetropole sich anschickt, der Krise mit aller Kraft die Stirn zu bieten. Von Johnsons umfangreichem Rettungspaket für die besonders gebeutelte Bau- und Immobilienbranche sollen vor allem diejenigen profitieren, die auf dem überhitzten Londoner Wohnungsmarkt keine Chance haben.

50.000 bezahlbare Wohnungen zusätzlich will das konservative Stadtoberhaupt mit öffentlicher Unterstützung bis 2011 errichten. Ein Tropfen auf den heißen Stein, angesichts der 200000 Haushalte, die sich zurzeit in überbelegten Wohnungen drängen, weil das Angebot an Sozialwohnungen bei weitem nicht ausreicht. Ganz abgesehen von den 50000 Familien, die in Notunterkünften leben.

Dabei hat es in London an ambitionierten Initiativen gegen Wohnungsnot und die Verelendung ganzer Stadtgebiete in den vergangenen Jahren nicht gefehlt. Eingeklemmt zwischen staatlichem Zentralismus, der Macht der 33 Stadtbezirke und den Profitinteressen privater Investoren scheiterte Johnsons Vorgänger im Bürgermeisteramt, Ken Livingstone, an der Finanzierung seiner Pläne für 240000 bezahlbare Wohnungen. Unterdessen trägt die Labour-Regierung mit ihrem Programm für eine "Urban Renaissance" eher zur Verschärfung statt zur Linderung der sozialen Gegensätze zwischen den 7,6 Millionen Einwohnern der Hauptstadt bei. Unter dem wachsenden Druck der globalen Städtekonkurrenz liefert die Ende der 1990er Jahre aufgelegte Agenda gegen das industrielle Siechtum der britischen Städte das maßgeschneiderte Instrumentarium, um das Londoner Zentrum den Wohn-, Konsum-, Kultur- und Sicherheitsbedürfnissen der neuen Mittelschichten anzupassen.

Für die Verlierer, die nach dem Niedergang der Industrie und der Zerschlagung des Wohlfahrtsstaates in der Ära Thatcher an den ökonomischen und sozialen Rand der Gesellschaft gedrängt wurden, ist im Stadtzentrum dagegen immer weniger Platz. Denn im Wettbewerb mit New York, Paris und Frankfurt geht es nicht nur darum, die Nachfrage nach Büroflächen zu befriedigen. Die Qualität des städtischen Raums selbst gilt als prominenter Standortfaktor. Folglich setzen Politik und Wirtschaft seit Jahren alles daran, Londons Attraktivität für weltweit agierende Unternehmen und ihre Beschäftigten, für die viel beschworene Kreativindustrie und den anspruchsvollen Städtetourismus zu erhöhen und gleichzeitig die Abwanderung der hoch qualifizierten und gut verdienenden Angestellten des Finanz- und Dienstleistungssektors an den Stadtrand zu stoppen.

Während Politiker, Stadtplaner und Architekten die Wiederbelebung des Londoner Zentrums bereits bejubeln, spricht Rowland Atkinson von "urbanem Kolonialismus". So nennt der Stadtforscher die Rückeroberung der Innenstadt durch die zahlungskräftige Mittelschicht und steht damit im Kreis seiner Fachkollegen keineswegs alleine da. Über den touristischen Aha-Effekt spektakulärer architektonischer Vorzeigeprojekte hinaus geht der offensiv betriebene Imagewandel vom altindustriellen Moloch zur modernen Dienstleistungsmetropole immer häufiger mit einer Neudefinition des öffentlichen Raums einher. Weite Teile des Zentrums ähneln nach ihrer städtebaulichen Umgestaltung inzwischen kommerziellen Freizeiteinrichtungen nach dem Vorbild des Covent Garden Market, wo rund um die ehemaligen Markthallen selbst das vermeintlich spontane Spektakel der Musiker und Kleinkünstler kontrolliert und gemanagt ist.

Überwachte Südufer-Ordnung

Die fortschreitende Enteignung des öffentlichen Raums in Gestalt seiner exklusiven Reinszenierung lässt sich am Südufer der Themse, einem ehemaligen Industrie- und Hafenareal, hautnah erleben. Auf der ausgebauten Promenade mit Publikumsmagneten wie der Tate Modern, einem Design-Museum und dem Globe Theatre ist nur geduldet, wer den Ordnungs- und Sauberkeitsvorstellungen der Allianz aus Investoren und Politik genügt. Hinweistafeln informieren über nicht toleriertes Verhalten jenseits von Konsum und Kommerz. Videokameras wachen darüber, dass unerwünschte Nutzergruppen sich nicht breit machen, Bettler oder Straßenhändler sucht man hier vergebens. Gelegentlich verschlägt es ein paar Arbeiter hierher, die am Themse-Ufer ihre Angel auswerfen.

Von der postindustriellen Neuerfindung der Stadt sollen quasi nebenbei auch die innerstädtischen Inseln der Armut und Arbeitslosigkeit profitieren. Besonders das Londoner East End, wo in manchen Vierteln mehr als zwei Drittel der Haushalte in abgewirtschafteten Sozialwohnungen hausen, jeder zweite Bewohner einer ethnischen Minderheit angehört und in den Einwandererfamilien aus Bangladesch und Pakistan rund 70 Prozent der Kinder in Armut leben. Mit Investitionen in die marode Infrastruktur, in die Sanierung denkmalgeschützter Gebäude und in die Förderung gemischter Wohnanlagen subventioniert die öffentliche Hand das Vordringen der Mittelschicht auch in diese bislang gemiedenen Quartiere. Der neu entstehende sozial-räumliche Mix, so spekulieren Politiker und Planer, trage dazu bei, in den herunter gekommenen Wohnvierteln die dauerhafte Ausbreitung einer "Unterschichtenkultur" aus Resignation, Verwahrlosung, Gewalt und Kriminalität zu stoppen. Ein Modell, das auch in anderen europäischen Metropolen großen Anklang findet, lässt es sich doch in Politik umsetzen, ohne an die Ursachen der sozialen Ungleichheit rühren zu müssen.

Ob in Whitechapel oder Aldgate, in Bethnal Green, Hoxton oder Shoreditch: Arm und Reich leben jetzt im selben Viertel zwar oft nur einen Straßenzug voneinander entfernt, Berührungspunkte gibt es jedoch kaum. Dafür umso häufiger Spannungen. Statt vom sozialen Mix zu profitieren, sieht sich die angestammte Bevölkerung im East End mit dem urbanen Lebensstil ihrer neuen Nachbarn konfrontiert, einer Mischung aus digitaler Boheme und jungen Finanzjongleuren. Bio-Märkte, Coffee Shops und Designer-Läden haben die kleinen Lebensmittel- und Bekleidungsgeschäfte verdrängt, die das Lebensnotwendige zu erschwinglichen Preisen anboten. Auch wenn es um das Wohl des eigenen Nachwuchses geht, zeigen sich die gut situierten Zuzügler nicht sonderlich um Integration bemüht.

Rückkehr in alte Strukturen

Ihr Comeback im Zentrum feiert die Mittelschicht allerdings nicht erst seit Inkrafttreten des regierungsoffiziellen Stadterneuerungsprogramms. Seit sich in den späten 1960er Jahren der Übergang vom Industriezeitalter zur Dienstleistungsökonomie ankündigte, kehrt London allmählich zu seiner vorindustriellen Bevölkerungsgeographie zurück, in der das Bürgertum die Innenstadt für sich beanspruchte. Die kräftig angewachsenen neuen Angestelltenschichten erobern sich das Zentrum der einst stolzen Industriemetropole von der überflüssig gewordenen Arbeiterklasse zurück, die nur noch acht Prozent der Erwerbstätigen in der Stadt stellt. Richtig Fahrt aufgenommen hat der Gentrifizierungsprozess jedoch erst mit Londons Aufstieg zum prosperierenden Finanz- und Steuerungszentrum der Weltwirtschaft seit den 80er Jahren.

Der global agierende Finanz- und Dienstleistungssektor bescherte den oberen Einkommensgruppen enorme Gehaltssteigerungen und dem innerstädtischen Wohnungsmarkt steigende Immobilienpreise. Junge Banker, Börsenmakler, Anwälte und Unternehmensberater ziehen ebenso wie die Beschäftigten in der Kultur- und Medienbranche die neue Lebensqualität im Zentrum und die Nähe zu ihren Arbeitsplätzen dem beschaulichen Leben am Stadtrand vor. Die Invasion der Mittelschicht blieb für die unteren Einkommensschichten nicht ohne Folgen: Preiswerter Wohnraum wurde zusehends knapper. Vermieter entdeckten, dass sich mit dem Verkauf ihrer Immobilien deutlich höhere Renditen erzielen ließen und wandelten die erschwinglichen Miet- in Eigentumswohnungen um.

Mit der neoliberalen Neuorientierung der Politik unter der Ägide Margaret Thatchers verschärfte sich die Situation auf dem Wohnungsmarkt in den 1980er Jahren weiter. Die öffentliche Hand zog sich aus dem sozialen Wohnungsbau zurück und veräußerte die vorhandenen Bestände an gemeinnützige Wohnungsgesellschaften und an die Mieter, die sich den Kauf leisten konnten. In kommunalem Besitz blieben die tristen Betonburgen aus den 60er und 70er Jahren, in denen sich, wie in Hackney, heute Armut und Perspektivlosigkeit konzentrieren. Dass seit ein paar Jahren das Angebot an Mietwohnungen auf dem freien Markt wieder steigt, nutzt den Geringverdienern wenig. Immobilienkonzerne haben erkannt, dass sich selbst gut verdienende Angestellte immer seltener die teuren Eigentumswohnungen und Häuser kaufen können und setzen wieder verstärkt auf Vermietung.

Längst artikuliert sich bei den Betroffenen der Unmut darüber, dass Politiker und Planer die Verdrängung der ärmeren Bevölkerung bei der Revitalisierung des Londoner Zentrums offenbar bewusst in Kauf nehmen. Im Süden Londons hielt eine Gruppe von rund 300 Hausbesetzern die Polizei zuletzt in Atem, um auf den Ausverkauf an bezahlbarem Wohnraum aufmerksam zu machen. Weniger spektakulär versuchen Bürgerinitiativen seit Jahren, sich gegen die Gentrifizierung ihrer Stadtteile Gehör zu verschaffen. Meist ohne Erfolg. Wie zuletzt bei der Ansiedlung des Geländes für die Olympischen Spiele 2012 im Lower Lea Valley, von der Stadtregierung als Beitrag zur Aufwertung des Londoner Osten propagiert. Die Folgen sind schon jetzt spürbar. Rund um die riesige Baustelle im Bezirk Newham sind die Immobilienpreise kräftig in die Höhe geschossen.

Doch inzwischen verschont der aggressive Verdrängungsprozess auch die Bezieher deutlich höherer Einkommen nicht mehr, wie sich im etablierten Mittelschichtviertel Barnsbury nördlich der Londoner City zeigt. In den 1960er Jahren verdrängten zunächst Architekten, Ärzte, Universitätsdozenten und Medienleute die dort ansässigen Arbeiter. Später kamen Angestellte aus dem mittleren und gehobenen Management hinzu. Trotz ihrer Einkommen können sich die Vertreter dieser Berufsgruppen die Reihenhäuser aus viktorianischer Zeit heute nicht mehr leisten, wie Atkinsons Kollegen Tim Butler und Loretta Lees kürzlich in einer Studie zeigten. Eine neue Gruppe superreicher Globalisierungsgewinner mit Jahreseinkommen von 500000 Pfund und mehr, zusätzliche Bonuszahlungen nicht mitgerechnet, drängt seit Mitte der 90er Jahre all jene aus dem Markt, die nicht in der Lage oder willens sind, im Durchschnitt 700000 Pfund für ein Einfamilienhaus zu zahlen.

"Super-Gentrifizierung" nennen die beiden Stadtforscher dieses Phänomen, weil es sich mit ihrem herkömmlichen Begriffsapparat nicht mehr beschreiben lässt. Da bleibt wenig Hoffnung, dass Bürgermeister Boris Johnson der räumlichen Polarisierung Londons künftig mehr entgegenzusetzen hat, als sein Vorgänger.

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