Das andere Amerika

Ein radikaler Demokrat: Zum Tode des Radioreporters, Buchautoren und Schauspielers Studs Terkel. Den Sohn russischer Einwanderer zeichnete erfrischende Radikalität aus - er schonte sich nicht.
Von RUDOLF WALTHER
Vor einem Jahr fragte sich der 96-jährige Radioreporter, Buchautor, und Schauspieler Studs Terkel: "Wie kam es, dass wir am Ende des Zweiten Weltkriegs die geachtetste Nation der Welt waren? Heute sind wir die verachtetste Nation. Wie kommt das? Die amerikanische Bevölkerung hat die Vergangenheit vergessen. Ich nenne die Vereinigten Staaten ,Vereinigte Alzheimer-Staaten'", denn die verdrängen, dass der Krieg im Irak mit "einer obszönen Lüge" begann.
Diese erfrischende Radikalität zeichnet einen Autor aus, der sich nicht schonte. Als Vierundachtzigjähriger wurden ihm fünf Bypässe gelegt, an täglich zwei Martinis, zwei Zigarren und einem 14-Stundentag hielt er dennoch fest und veröffentlichte sechs Jahre später sein letztes Buch "Die Hoffnung stirbt zuletzt" (deutsch 2004).
Louis Studs Terkel wurde als Sohn russischer Einwanderer 1912 in New York geboren und wuchs in äußerst bescheidenen Verhältnissen auf. Terkel studierte zwar Rechtswissenschaften in Chicago, arbeitete aber nie in diesem Beruf, sondern schrieb Drehbücher, Bühnenstücke und Werbetexte, wurde Nachrichtensprecher, Sportberichterstatter und schließlich Moderator von Musiksendungen.
Von 1949 bis 1952 moderierte er eine Fernsehsendung mit dem Titel "Studs' Place", die er trotz der Intervention von Mahalia Jackson aufgeben musste, nachdem er ins Fadenkreuz des McCarthyismus und auf eine Schwarze Liste geraten war. Terkel verstand sich seit seiner Jugend und bis zu seinem Tod als "radikaler Demokrat", nach europäischem Sprachgebrauch also als Linker. Er engagierte sich früh gegen die Rassentrennung und für die Abschaffung der Kopfsteuer.
Von 1952 an machte er 45 Jahre lang eine tägliche Radiosendung - "The Studs Terkel Program". Er interviewte Prominente aus Kunst, Musik, Wissenschaft und Politik, aber auch einfache Leute, Arbeitslose, ehemalige Gefangene, Verarmte und andere Menschen vom Rand der Gesellschaft. Er interessierte sich für dreierlei: "wirkliche Menschen, wirkliche Gefühle und das wirkliche Leben", so Stephanie Simon in ihrem Nachruf in der Los Angeles Times.
Der Kulturkanal auf FM 105,9 beim Chicagoer Sender World Federation of Music Therapy wurde landesweit berühmt und vom Expräsidenten Bill Clinton als "American library of voices" gelobt, was keine Übertreibung ist. Bei ihm kamen alle zu Wort. Mit Tonband und Mikrofon reiste er durchs Land, sprach mit Tausenden von Menschen und machte aus den Aufnahmen 17 einzigartige Bücher.
Er formulierte seine Fragen nicht im Voraus, sondern ging spontan und respektvoll auf Menschen zu, brachte sie so zum Reden über ihre Erfahrungen, ihre Hoffnungen und ihre Befürchtungen, ohne sich jemals anzubiedern und ohne sich selbst zu inszenieren. Er war das Gegenteil eines Talk Show-Dompteurs. Einer seiner Kollegen brachte diese Fähigkeit auf den Punkt: "Wenn Studs zuhört, redet jeder."
Die Bücher über die Weltwirtschaftskrise ("Der Große Krach", 1972), den Zweiten Weltkrieg ("Der gute Krieg", 1989), "Giganten des Jazz" (2005) und Musiker ("Studs meets Music", 2006) machten Terkel auch beim deutschsprachigen Publikum bekannt.
In seinem Buch "Der gute Krieg" schilderte er die Erfahrungen von amerikanischen Soldaten und Offizieren, aber auch von Rüstungsarbeiterinnen und Rüstungsarbeitern, Frauen, Kindern und Eltern von Gefallenen. Für dieses Buch, das zum Bestseller wurde, erhielt er den Pulitzer Preis.
Studs Terkel starb am 31. Oktober, vier Tage vor den Wahlen, deren möglicher Ausgang er - mit Recht - auch als seinen Sieg betrachten würde. Zu Lebzeiten sprach er darüber, wie er beerdigt werden möchte. Mit Texten von Mark Twain und George Bernard Shaw, mit Musik von Schubert und dem Jazzer Big Bill Broonzy, während seine Asche von einer Seifenkiste herab auf jenem Platz in Chicago verstreut wird, auf dem er als junger Mann seine radikaldemokratischen Thesen verkündete.