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Wo die Flüsse wieder freier fließen

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Von: Martin Dahms

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Vor allem künstliche Staustufen – wie diese hier im Poqueira-Fluss bei Pampaneira – sollen aus den Flüssen verschwinden. imago images
Vor allem künstliche Staustufen – wie diese hier im Poqueira-Fluss bei Pampaneira – sollen aus den Flüssen verschwinden. imago images © Imago Images

In Spanien sind im Jahr 2021 so viele Wehre und Staumauern abgerissen worden wie sonst nirgends in Europa. Was in Zeiten extremer Trockenheit verrückt erscheinen mag, ist ökologisch durchaus sinnvoll.

Die Menschen in Spanien haben ihre Stauseen ziemlich genau im Blick. Denn da kommt ihr Wasser her. Zurzeit sieht’s eher mäßig aus. Anfang der Woche waren die künstlichen Seen zu 50,07 Prozent gefüllt, minimal mehr als vor einem Jahr (49,66 Prozent), aber deutlich unter dem Durchschnitt der vergangenen zehn Jahre um diese Zeit (68,03 Prozent). Wenn nicht noch ein kleines Frühlingswunder geschieht, steht Spanien ein weiteres extrem trockenes Jahr bevor.

Umso seltsamer nimmt sich da die Nachricht aus, dass Spanien im Jahr 2021 fast so viele alte Staudämme niedergerissen hat wie der Rest Europas zusammengenommen, nämlich 108 von insgesamt 238. Da sieht man’s mal wieder, diese linke Regierung, reißt Staudämme ab, wenn man sie am meisten braucht, und das wahrscheinlich, weil die Stauseen bekanntermaßen ein Lieblingsprojekt des Militärdiktators Franco waren. So argumentieren einige aufgeregte Kommentatoren im Netz. Sie irren sich aber.

Die Stauseen, aus denen die Menschen in Spanien ihr Trinkwasser beziehen, sind gut 1200 große Sperrwerke, verteilt übers ganze Land. Die größten, La Serena und Alcántara, liegen in der westspanischen Extremadura, dort ist viel Platz, und zumindest in der nördlichen Hälfte der Extremadura regnet es auch viel. Diese Staumauern sind nicht von der Spitzhacke bedroht. Das wäre hydrologischer Irrsinn, denn das Grundwasser versorgt nur etwa 15 Prozent der spanischen Bevölkerung, und die Meerwasserentsalzung steckt noch in den Kinderschuhen. Der große Rest des Wassers für die Haushalte, die Industrie und vor allem die Landwirtschaft kommt aus Stauseen.

Spaniens Flüsse aber sind zusätzlich noch mit Zehntausenden kleineren Wehren und Staumauern durchzogen, um die sich oft kein Mensch mehr kümmert. Das ist kein spezifisch spanisches Problem. Die „World Fish Migration Foundation“, eine Gemeinschaftsinitiative mehrerer Naturschutzorganisationen, schätzt die Zahl solcher Sperrwerke in ganz Europa auf etwa 1,2 Millionen. Auf alle 1,35 Flusskilometer kommt nach diesen Schätzungen eine künstliche Sperre. Die meisten davon, etwa 225 000, liegen in Deutschland, rund 172 000 in der Schweiz und fast ebenso viele in Spanien. Es gibt gute Gründe, sie abzureißen, nicht alle, aber die nutzlosen. Und auch deren Zahl beträgt laut World Fish Migration Foundation immer noch mindestens 150 000.

Von allen 171 000 künstlichen Barrieren in Spaniens Flüssen, nützlichen wie unnützen, könnten an die 5500 verschwinden, weil sie keine Funktion mehr erfüllen. Mit den 108 abgerissenen Anlagen ist ein kleiner Anfang gemacht. Zum Vergleich: Deutschland hat im selben Jahr nur zwei Sperrwerke verschwinden lassen. „Die spanische Gesetzgebung ist eine der besten für den Umgang mit Staudämmen“, sagt Rafael Seiz vom spanischen WWF im Gespräch mit dem britischen „Guardian“. „Sie verpflichtet den Besitzer, den Abbau der Anlage zu bezahlen, wenn sie nicht mehr benutzt wird.“

Lobbyarbeit für die Flüsse

Weil es aber von der gesetzlichen Pflicht zur praktischen Umsetzung ein großer Schritt ist, macht die World Fish Migration Foundation mit ihrem jährlichen Bericht „Dam Removal Progress“ Lobbyarbeit im Namen der Flüsse. Außer ökologischen sprächen auch wirtschaftliche und Sicherheitsaspekte für den Abbau alter Staudämme. Die ungenutzten Bauwerke ihrem Schicksal zu überlassen, ist keine gute Idee: Ihr Verfall mag schön anzusehen sein, kann aber ungewollte Schäden verursachen.

Es gibt auch Zweifelsfälle zwischen den großen, für die Wasserversorgung unverzichtbaren Stauseen und den vielen obsoleten Kleinanlagen. Für ein geplantes, aber nie gebautes Atomkraftwerk in der Provinz Badajoz wurde der Fluss Guadalupejo aufgestaut, um immer genügend Kühlwasser zur Verfügung zu haben; jetzt will das Umweltministerium die Staumauer abreißen lassen, obwohl sich der See durchaus als Trinkwasserreservoir eignete. Auch ein Stausee in der Provinz Teruel soll gegen den Willen der meisten Menschen in der Region verschwinden. Es gibt unvermeidliche Debatten. Aber so viel ist sicher: Mit Franco hat das alles nichts zu tun.

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