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Von wegen Flugscham

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Von: Thomas Borchert

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Theresa Scavenius (auf dieser Aufnahme aus dem Jahr 2020 in der Mitte) gilt als kompromisslose Kritikerin von Greenwashing. IMAGO IMAGES
Theresa Scavenius (auf dieser Aufnahme aus dem Jahr 2020 in der Mitte) gilt als kompromisslose Kritikerin von Greenwashing. © Imago

Dänemarks größte Zeitung attackiert in einem Leitartikel eine Politikerin wegen ihrer Flüge - und löst damit eine Debatte über die individuelle Verantwortung beim Klimaschutz aus

Zeigt das Fernsehen die Zigtausenden Delegierten und noch mal so viele Medienleute bei den UN-Klimakonferenzen in Scharm el-Scheich, Glasgow oder auch Lima, grübelt man schon zwischendurch über all die CO2-Emissionen durch Flugreisen zu und von diesem wichtigen Wanderzirkus. In Kopenhagen, Austragungsort der 2009 legendär gescheiterten COP15, ist zusätzlich zu diesem Grübeln jetzt ein knallharter Streit über die ganz persönliche Verantwortung von Klima-Vorkämpfer:innen ausgebrochen.

„Schäm dich, Theresa Scavenius“, überschrieb Dänemarks größte Zeitung „Politiken“ ihren bitterbösen Leitartikel über die gerade ins Parlament gewählte Klimasprecherin der Partei Alternativet. Der Vorwurf: Als Klimaforscherin hat Scavenius seit 2017 dienstlich 24 Flugtickets gebucht, die meisten zwischen Kopenhagen und ihrem knapp 250 Kilometer entfernten Arbeitsplatz an der Universität Aalborg. Und das, während ihre Partei Alternativet, die den Sprung ins Parlament geschafft hat, im Wahlkampf zum Folketing die lauteste Stimme für Klimaschutz war – und die 38- Jährige schon länger einen Namen als kompromisslose Kritikerin von Greenwashing und immer höheren Klimazielen ohne ernsthaftes Handeln hat.

„Politiken“ stuft sich seit einigen Jahren selbst als „wichtigste klimakritische Stimme“ im eigenen Land ein. Ungewöhnlich auch, dass die Zeitung schon unter eigenem Namen eine Kundgebung mit der per Bahn aus Stockholm angereisten Greta Thunberg organisiert hat. Der Schritt von Berichterstattung und Kommentar zum Klima-Aktivismus lässt die Anklage gegen Scavenius noch gewichtiger ausfallen.

Genau wie die zufällig in derselben Woche veröffentlichte Klimabilanz von „Politiken“ für dieses Jahr. Hier war zu lesen: „Insgesamt sind wir deutlich mehr geflogen, vor allem in Europa und Skandinavien.“ Chefredakteur Christian Jensen, ein leidenschaftlicher Thunberg-Fan, bedauerte das und verwies auf die Gesamtlage: „Die Welt ist aus den Fugen, deshalb fliegen wir mehr.“ Der Krieg in der Ukraine, die „schändliche Behandlung“ der migrantischen Arbeiter vor der WM in Katar sowie sicherheitspolitische Probleme gleich vor der Haustür in Schweden, Finnland und Polen seien für die vielen Flüge zwecks Reportage verantwortlich: „Hätten wir das nicht gemacht, hätten wir unseren Auftrag als Zeitung verraten.“ Positiv in der Klimabilanz hob Jensen heraus, dass in der „Politiken“-Kantine 2022 weder Plastiktassen noch -löffel ausgegeben wurden.

Interessanter als diese bizarre Doppelmoral fiel die offensive Reaktion der attackierten Klimapolitikerin aus. Scavenius entschuldigte sich nicht für die Flugreisen, auch nicht mit dem üblichen „Leider, leider für die Arbeit unausweichlich“. „Mein Ausgangspunkt ist nie die individuelle Verantwortung gewesen,“ schrieb sie stattdessen auf Facebook und begründete ihre „rabiate Klimapolitik“ ganz anders: „Vor 20 bis 30 Jahren haben wir global bindende Abmachungen zum Auslaufen, zur Reduktion und zu Verboten diskutiert. Jetzt wird fast nur noch über Selbstregulierung und individuelle Verantwortung gesprochen.“

Das ist wohl eine etwas zu kühne Behauptung, wenngleich die verschwindende Rolle der Klimapolitik vor und nach den dänischen Wahlen vor ein paar Wochen Scavenius recht zu geben scheint. Hier ging der kümmerliche Rückgang der dänischen CO2-Emissionen mit nach wie vor großzügigen Klimaregeln für die Agrarindustrie und dubiosen Ausnahmeregeln etwa für das Portland-Zementwerk in Aalborg, Dänemarks größtem einzelnen Treibhausgasproduzenten, so gut wie komplett unter.

Statt „mea culpa“ mit Flugscham kündigte Scavenius an, die kommenden vier Jahre für die Rückbesinnung auf „traditionelle Klimapolitik“ statt „Pseudo- und Symbolpolitik“ zu nutzen: „Ich will auch die repräsentieren, die eine andere Gesellschaft wollen, aber als normale Bürger die Nahrungsmittel kaufen, die es in den Supermärkten gibt, und die Transportmittel nutzen, die zugänglich sind.“ Vorher muss sie aber doch erst den gewaltigen Shitstorm überstehen, den die Enthüllung ihrer 24 Flugreisen und „Politikens“ Schlagzeile ausgelöst hat.

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