Ungarn-EU: Viktor Orbáns Spielzeug
Während Ungarn unter den Folgen der EU-Sanktionen leidet, erscheint eine Eisenbahn im Heimatdorf des Ministerpräsidenten Viktor Orbán als Symbol für verschwendetes EU-Geld.
Um exakt 12 Uhr tuckert die Bimmelbahn im ungarischen Felcsút los. Ein 2500-Seelen-Dorf in dem Viktor Orbán aufgewachsen ist. Die rote Lok mit den beiden Retrowaggons führt nun in ein Maisfeld, hinter dem ein botanischer Garten liegt. Fünfmal am Tag zuckelt sie die sechs Kilometer entlang. Und zurück. Ein Zug nach nirgendwo.
Doch er verkehrt nicht zufällig im Geburts- und Heimatort von Viktor Orbán. Dort ließ sich der ungarische Ministerpräsident einen riesigen Fußballtempel buchstäblich in den Vorgarten seines Häuschens bauen. Beinahe ebenso sehr erfreute er sich 2016 bei der Einweihung der Bahn an seinem neuen Spielzeug.
Wann hier das letzte Mal Touristen Platz genommen haben, daran erinnert sich der Fahrkartenkontrolleur „im Moment nicht so genau“. Das erstaunt. Immerhin, so steht es im damaligen Förderantrag an die EU, sollten hier mehr als 2500 Menschen pro Tag befördert werden. Die Aussicht aus der kleinen Lok hatte Brüssel damals überzeugt. Eine Tafel neben der Bahnstrecke informiert darüber, dass die EU den Bau mit rund 2 Millionen Euro unterstützt hat.
Ákos Hadházy lacht auf, als er den Blick über die bemerkenswert unspektakuläre Landschaft schweifen lässt. Er findet das Ganze jedoch längst nicht mehr. Der 49-Jährige gehört als parteiunabhängiger Oppositioneller dem ungarischen Parlament an und das Bild, das er von der politischen Klasse seines Landes zeichnet, ist von Frust geprägt.
Hadházy versteht sich mittlerweile vor allem als Auf- und Erklärer all jener Fälle, bei denen Gelder in den Taschen von Orbáns Umfeld landeten oder in dunklen Kanälen versickerten. „Die Herausforderung besteht nicht mehr darin, Korruptionsbeispiele herauszufinden, sondern die vielen Menschen aufzuzeigen“, sagt Hadházy. Die Propagandamaschinerie der Regierung sei so gut ausgebaut, „dass wir nicht genügend Leute erreichen“.
Die Ungarinnen und Ungaren ächzen zwar unter der hohen Inflation und explodierenden Energiepreisen, Lehrerinnen und Lehrer fordern mehr Geld, Ärztinnen und Ärzte sowie Pflegende stehen unter Druck. Doch die Schuldigen für die drängenden wirtschaftlichen Probleme finden die meisten Bürger:innen nicht in der nationalkonservativen Partei Fidesz, sondern in Brüssel – auch dank der von der Regierung kontrollierten Medien, die seit Orbáns Machtübernahme 2010 vor allem das Lied von Fidesz singen.
Derzeit kleben in Budapest an Litfaßsäulen und Häuserwänden überall Plakate, auf denen das Ergebnis von „nationalen Konsultationen“ geschrieben steht, die Orbán durchführen ließ: 97 Prozent, so heißt es da, sagten Nein zu den EU-Sanktionen gegen Russland. Auf die schiebt die ungarische Regierung hauptsächlich die wirtschaftlichen Probleme des Landes.
Nach der Fahrt trifft Hadházy Daniel Freund, so etwas wie einen politischen Verbündeten. Der Grüne gehört im EU-Parlament dem Club der Umtriebigen in Sachen Rechtsstaatlichkeit an. Seit 2019 sitzt der 38-Jährige im Hohen Haus Europas, mit Korruption beschäftigt er sich schon länger. So hatte er zuvor für die Nichtregierungsorganisation Transparency International gearbeitet, die sich im Kampf gegen Korruption als weltweit führend rühmt. Mittlerweile sind er und seine Komplizen für Orbán zu einer Bedrohung geworden. Denn es war eine Sache, dass die Abgeordneten Ungarn den Stempel eines „hybriden Systems der Wahlautokratie“ bescheinigten. Eine andere war der Beschluss der EU, Gelder einzufrieren. „Das ist ein Riesenerfolg, der auf das Parlament zurückgeht“, sagt Freund.
Der jahrelange Druck auf die EU-Kommission und die übrigen Mitgliedsstaaten habe Wirkung gezeigt, „ein Umdenken ausgelöst“. Ende 2022 wandte die EU erstmals in ihrer Geschichte den Rechtsstaatsmechanismus an, den Freund mitverhandelt hat. Das Instrument erlaubt es der Union, Fördermittel zurückzuhalten, wenn die Gefahr besteht, das Geld könnte missbräuchlich verwendet werden. Olaf, die Antikorruptionsbehörde der EU, ermittelt seit Jahren zu Korruption und Vetternwirtschaft in Ungarn und machte auf etliche Beispiele aufmerksam. Da war der lukrative Zuschlag für die landesweite Ausstattung mit neuen Straßenlaternen, den eine Firma erhielt, in der der Schwiegersohn des Ministerpräsidenten saß. Für Furore sorgt auch der Sensationsaufstieg von Lörinc Mészáros, der es während der Amtszeit seines alten Kumpels Orbán als Dauerpartner bei EU-finanzierten Projekten vom Gasinstallateur zum milliardenschweren Bauunternehmer gebracht hat.
Im Dezember einigten sich die Mitgliedstaaten dann darauf, 6,3 Milliarden Euro von für Budapest vorgesehenen Gelder einzufrieren. Das entspricht 55 Prozent der Mittel aus drei Programmen zur Förderung benachteiligter Regionen, die Ungarn bis 2027 zustehen. Dabei hatte Orbán alles versucht, um die Summen freizupressen. In Brüssel ging es buchstäblich zu wie auf einem Basar. Ein Ja aus Budapest zu neuen Sanktionen gegen Russland? Kostet. Kein Veto gegen Budgethilfen für die Ukraine? Kostet. Orbán spielt diese Spielchen so gut wie kein anderer EU-Regierungschef, dieses Mal aber hat er sich verzockt. Am Ende entschied der enervierte Rest der Gemeinschaft das Kräftemessen für sich. 18 Prozent des ungarischen Anteils am EU-Aushalt wurden ausgesetzt.
Zudem bleiben die Konjunkturmittel auf Eis. So wartet Orbán weiter auf Corona-Hilfen in Höhe von 5,8 Milliarden Euro. Die Überweisung der ersten Tranche ist an die Erfüllung von 27 „Super-Meilensteinen“ geknüpft, die die EU-Kommission definiert hat. Es handelt sich um Vorkehrungen, mit denen die Regierung die systemische Korruption bekämpfen und die Unabhängigkeit der Justiz wiederherstellen soll. Sobald dies nach Einschätzung der Brüsseler Behörde getan ist, werden auch die eingefrorenen Kohäsionsmittel wieder frei. Budapest hat reagiert, zumindest ein bisschen.
Wie verlangt soll nun eine Arbeitsgruppe zur Korruptionsbekämpfung die ebenfalls neu geschaffene Anti-Korruptions-Behörde beraten. Denn Orbán braucht das Geld. „Was für Wladimir Putin das Öl ist, sind die EU-Subventionen für Orbán“, sagt Oppositionspolitiker Hadházy. Noch sind die Auswirkungen der Reförmchen kaum zu spüren. Umso mehr appelliert Hadházy an Brüssel, nicht einzuknicken. Dass die Kommission nicht „bei der ersten kleinen Scheinreform“ nachgibt, hofft auch Freund: „Das Werkzeug des Geldeinfrierens wirkt, es bewegt sich etwas. Selbst wenn der Angriff auf den Rechtsstaat nur langsamer läuft, ist das eine Verbesserung der Situation. “Einem Bericht der „Welt“ zufolge, der sich auf einem Schreiben der Brüsseler Behörde stützt, betreffen die beschlossenen Sanktionen gegen Ungarn künftige Mittelbindungen und gelten nicht rückwirkend. Ein erster Sieg für Orbán.
Gábor Iványi aber rollt die Augen, wenn er von angeblichen Reformen hört. „Sie“, sagt der 72-Jährige mit ruhiger Verächtlichkeit und meint mit „sie“ die Regierung, „betrügen und geben nur vor, zu tun, was die EU fordert.“ Der methodistische Pastor predigt vornehmlich Nächstenliebe, aber seit vielen Jahren auch die Vorteile der EU. Für Orbán hat er kein gutes Wort mehr übrig: „Er lügt sogar, wenn er eine Frage stellt.“ Während viele den Mann mit dem weißen Bart für sein Engagement für Obdachlose, Arme und sozial Schwache loben, wird er von der Regierung „schikaniert“, wie Iványi es nennt. „Korruption, Rechtsbruch, Diktatur – Orbán hat alles Schlechte der letzten 100 Jahre zurückgebracht“, sagt er.
Als Ex-Politiker und Abgeordneter hat Iványi die Wandlung des Viktor Orbán vom liberalen Hoffnungsträger zum autokratischen Nationalisten eng verfolgt. Die beiden Männer kennen sich seit den 80er-Jahren, Iványi hat Orbán getraut, seine beiden ältesten Kinder getauft. Doch mit dem Machthunger Orbáns kam der Bruch. Heute wendet sich der Geistliche ab, wenn er „die widerwärtigen Kampagnenslogans gegen die EU“ liest. Deshalb unterstützt er auch die Antwort der Gemeinschaft. Mehr noch, sie gebe ihm etwas Hoffnung. „Es spielt keine Rolle, wenn die Menschen leiden“, sagt er, obwohl ihn der Gedanke schmerzt. „Die Leute müssen den Unterschied spüren.“ Und vor allem die Verbindung herstellen zwischen Orbáns Tun und dem gestoppten Geldfluss aus Brüssel.
„Die EU muss aktiver kommunizieren, wer schuld daran ist, dass es kein Geld gibt“, fordert auch Daniel Freund. Bevor er zurück nach Brüssel reist, nimmt Ákos Hadházy ihn zu einem Abstecher mit, zum Steinbruch von Orbáns Vater Gyözö. Dort geht es geschäftig zu. Ein Lastwagen nach dem anderen biegt in die Einfahrt zum Kieswerk, voll beladene Lkw verlassen das Gelände. Hadházy lacht wieder auf. Das Werk liefere fast exklusiv die Baumaterialen für öffentliche wie EU-geförderte Projekte. „Im Grunde muss Orbán bei Bauausschreibungen gar nicht mehr betrügen, weil ihm alle Firmen gehören, die sich bewerben könnten“, sagt Freund. Nach zehn Minuten erscheint plötzlich ein älterer Ungar, begleitet von einem Mann vom Typ Türsteher, und droht damit, die Polizei zu rufen. Es ist Gyözö Orbán.