Sorgearbeit: Die unsichtbare Last

Viele Frauen arbeiten Teilzeit – offiziell. Eigentlich arbeiten sie aber Vollzeit oder leisten massive Überstunden, da sie auch Kinder und Haushalt wuppen. Vorschläge, den Fachkräftemangel durch Mehrarbeit von Frauen zu beheben, greifen daher zu kurz. Von Kira von der Brelie.
Wenn Peter Adrian und Hubertus Heil davon sprechen, dass Frauen mehr arbeiten sollen, denken sie vielleicht an Frauen wie Jolyn Stafilarakis. Die 34-Jährige arbeitet in einer Krippe – einem Ort, an dem Fachkräfte dringend gebraucht werden. Sie arbeitet in Teilzeit. Zu viel brach liegende Arbeitskraft?
DIHK-Chef Adrian und Bundesarbeitsminister Heil (SPD) rechnen so: Wenn Frauen wie Stafilarakis nur zwei Stunden mehr am Tag arbeiten würden, dann „würde das so viel bringen wie 500 000 Arbeitskräfte“. Dann, so der Tenor, wäre das große Problem Fachkräftemangel ein Stück kleiner.
Frauen sollen, keine Frage, die Möglichkeit haben, stärker in Erwerbsarbeit zu kommen. Viele wollen das, gerade auch die mit Kindern. Es hilft der Karriere und dem Einkommen und der Absicherung im Alter. Der Volkswirtschaft würde ein Zuwachs an gut ausgebildeten Arbeitskräften auch gut tun.
Das Problem ist nur: Wenn die Vertreter der Politik in diesem Zusammenhang von Arbeit sprechen, gibt es da offenbar ein Missverständnis. Denn Stafilarakis arbeitet nicht nur 35 Stunden in der Woche. Sie hat noch einen zweiten Job: Sie muss sich um ihre Tochter kümmern. Sie leistet unbezahlte „Carearbeit“.
Damit gemeint ist das Sorgen und Sich-kümmern in einer Familie. Kinderbetreuung, kochen, putzen, einkaufen, Hausaufgabenhilfe, Altenpflege. Fürsorgearbeit ist Arbeit ohne Gehalt. Außerhalb der Statistiken des Arbeitsministers.
Der aber hat zuallererst den Fachkräftemangel im Auge. Rund 500 000 Stellen können nicht mit passendem Personal besetzt werden. Es droht Wohlstandsverlust, warnt die staatliche Förderbank KFW. Neben Zuwanderung und Qualifizierung soll deshalb auch mehr Erwerbsarbeit von Frauen dem Mangel entgegenwirken. Die Frage ist allerdings, ob das Potenzial, das dort gesehen wird, überhaupt für den Arbeitsmarkt zur Verfügung steht. Oder ob die meisten Frauen, die heute nicht in Vollzeit arbeiten, eigentlich gar keine Zeit für zusätzliche Arbeit haben.
„In der Debatte wird nicht ausreichend über Carearbeit gesprochen“, sagt Laura Venz, Professorin für Arbeitspsychologie an der Leuphana-Universität in Lüneburg. Anders gesagt: Viele Frauen sind auch ohne Vollzeitjob voll ausgelastet. Und das ist gar nicht so einfach zu ändern.
Adrian und Heil rechnen das Kümmern in der Familie aus „Arbeitszeit“ einfach heraus. Würde man aber Fürsorge ins Bruttoinlandsprodukt einbeziehen, läge der Anteil laut Statistischem Bundesamt bei 39 Prozent. Tut man aber nicht. Und so bleibt diese Arbeit in unserem Wirtschaftsverständnis unsichtbar. Wer Essen kocht und es verkauft, gilt als produktiv. Wer unbezahlt seine Familie versorgt, nicht. Und die Frauen machen immer noch den Großteil dieser Arbeit. In Zahlen sieht das so aus: In Deutschland gibt es eine sogenannte Gender Care Gap von 52,4 Prozent. Frauen verbringen im Schnitt pro Tag eineinhalbmal so viel Zeit mit unbezahlter Fürsorgearbeit wie Männer. Bei heterosexuellen Paaren mit Kindern sind es sogar 83,3 Prozent.
Das alles führt dazu, dass Heil auf dem Papier recht hat. Die Frauenerwerbsquote ist zwar mit 74,6 Prozent so hoch wie nie, europaweit ist Deutschland Spitzenreiter. Aber: Jede zweite Frau arbeitet in Teilzeit. Und nur 17 Prozent wollen laut einer Bertelsmann-Studie mehr arbeiten.
„Die Politik fordert, dass Frauen mehr arbeiten, ohne sich darüber Gedanken zu machen, was diese Frauen eigentlich tun, wenn sie nicht arbeiten“, sagt Autorin Susanne Garsoffky („Die Kümmerfalle“). „Es kann nicht sein, dass Frauen sich um Menschen kümmern und gleichzeitig möglichst viele Stunden erwerbstätig sind. Das funktioniert nicht. Das sind zwei Jobs.“ Wer also durch Mehrarbeit von Frauen die Fachkräftekrise lösen will, muss an anderer Stelle ansetzen.
Es gibt kein Gesetz, das es Männern verbietet, Teilzeit zu arbeiten oder Frauen die Vollzeitstelle untersagt. Warum teilen sich Mann und Frau die Arbeit dann nicht einfach anders auf?
Oft, weil es sich nicht lohnt. Frauen verdienen pro Stunde immer noch weniger Geld als Männer – sogar dann, wenn sie die gleiche Ausbildung und Position haben. 2022 lag der Unterschied laut Statistischem Bundesamt im Schnitt bei 18 Prozent. Zudem werden Berufe wie Erzieherin oder Sozialarbeiterin, die als „weiblich“ gelten, grundsätzlich schlechter bezahlt als männlich konnotierte. Für viele Paare geht es nicht, dass der besser bezahlte Partner Hausmann wird.
Dazu kommt: „Im deutschsprachigen Raum wird die Rolle der Mutter immer noch stark idealisiert“, sagt Christa Binswanger. Die Professorin forscht an der Universität St. Gallen zu Care-Ökonomie. „Die Verantwortung für das Kind ist gesellschaftlich in erster Linie an die Mutter geknüpft. Sie muss immer greifbar sein für das Kind.“ Mütter, die Vollzeit arbeiten, müssen sich also öfter dafür rechtfertigen.
Selbst wer sich davon frei machen kann, hat ein Problem. Denn dann muss die Fürsorge von jemand anderem übernommen werden. Zumindest für die Bekämpfung des Fachkräftemangels dürfte auch die bessere Aufteilung der Familienarbeit unter dem Strich kein Mehr an Erwerbsarbeitskraft schaffen.
Hier wird die Fachkräftekrise zur Betreuungskrise. Nach Angaben des arbeitgebernahen Instituts der Deutschen Wirtschaft sind die Bereiche, in denen besonders viele Fachkräfte fehlen, Sozialarbeit, Kindererziehung und Altenpflege.
Jolyn Stafilarakis hat früher in der Gastronomie gearbeitet. Das hieß Schichtarbeit, Überstunden und Wochenendarbeit. „Als ich schwanger wurde, war klar, dass ich das so nicht weitermachen kann und will“, sagt sie. Nach Geburt und Elternzeit schulte Stafilarakis zur sozialpädagogischen Assistentin um und fing mit 30 Stunden in der Krippe an. Das passte gut, aber als sich ihr Partner und sie trennten, reichte das Geld nicht mehr.
„Ich musste meine Stunden hochstufen und einen Minijob anfangen“, erzählt sie. Weil ihre Tochter nur bis 15.30 Uhr im Hort betreut werden kann, kann sie nicht Vollzeit arbeiten. Den Minijob dagegen kann sie am Wochenende erledigen, wann es ihr passt.
So geht es vielen. Betreuungsplätze für Kinder sind begehrt und rar gesät. In Deutschland fehlen alleine rund 384 000 Kita-Plätze, wie eine Bertelsmann-Studie 2022 zeigte. „Wenn die Kinderbetreuungsmöglichkeiten ausgebaut werden, arbeiten Frauen auch mehr“, sagt Binswanger. „Kinderbetreuung ist nicht für alle so zugänglich, wie sie sein müsste.“
Deswegen ist ein Teil der Fachkräftestrategie der Bundesregierung, Kinderbetreuung auszubauen. Aber auch das greift zu kurz: „Wir können das Kümmern um andere nicht einfach auslagern. Das können wir nicht bezahlen. Auch gute Altenpflege können sich nur die wenigsten leisten“, sagt Susanne Garsoffky. „Wir müssen die Menschen schützen, die Carearbeit leisten.“
Wenn sie es sich aussuchen könnte, würde Jolyn Stafilarakis nicht mehr arbeiten als sie es bereits tut. Auch dann nicht, wenn ihre Tochter länger im Hort bleiben könnte. Sie wünscht sich etwas anderes. „Ich möchte weniger arbeiten“, sagt sie. „Als ich bei 30 Stunden war, ist mir zu Hause alles ein bisschen leichter gefallen.“
Es ist das genaue Gegenteil von dem, was Heil als Lösung für den Fachkräftemangel fordert. Christa Binswanger von der Universität St. Gallen aber sieht es ähnlich: „Eine Reduzierung der Arbeitszeit wirkt dem Fachkräftemangel letztlich entgegen, weil der Job dadurch attraktiver wird.“ Wenn also etwa „Menschen im Pflegesektor vier statt fünf Tage arbeiten, geht es ihnen besser. Sie werden weniger krank, sind weniger von Burnout gefährdet.“
Ist die Lösung für den Fachkräftemangel und die Care-Krise am Ende also die gleiche? Könnte mehr Flexibilität allen helfen? „Es geht darum Regelungen zu finden, bei denen beide Elternteile soviel arbeiten können wie sie wollen“, sagt Binswanger. „Wenn die Arbeit besser leistbar wäre, würde das auch dem Fachkräftemangel entgegenwirken. Dann wäre es für Menschen mit Fürsorgepflichten einfacher umsetzbar mehr zu arbeiten.“
Ein Umbau der Arbeit in diesem Sinne aber „ist nicht das, was ich als Ziel aus der Diskussion rund um den Fachkräftemangel wahrnehme“, sagt Laura Venz von der Universität Lüneburg.. „Diese Debatte um mehr Erwerbsarbeit für Frauen scheint mir eher aus der Not heraus geführt, ich erkenne wenig langfristige Überlegungen, die zu einer nachhaltigen Umgestaltung des Arbeitslebens führen könnten.“
Ein erster Schritt dahin bestünde darin, Familienarbeit als Arbeit anzuerkennen. Denn die Fürsorgearbeit von vielen macht die Erwerbsarbeit von vielen anderen erst möglich. „Wenn man Care-Bedürfnisse als wertvoll anerkennen würde, könnte daraus automatisch eine ganz andere Ökonomie entstehen“, glaubt Binswanger. Eine, die Strukturen schafft, in denen Frauen mehr arbeiten können, wenn sie es wollen – ohne dabei am Spagat zwischen Fürsorge und Job zu verzweifeln.