„Sie werden mich niemals von der Überzeugung abbringen, dass wir 1981 besser gelebt haben als heute“

US-Schriftsteller Bret Easton Ellis über die Jugend von heute, über das Schwulsein gestern und seinen Roman „The Shards“.
Mr. Ellis, Ihr größter Erfolg „American Psycho“ ist inzwischen vom Skandal- zum Kultroman der Generation X geworden. Aber er ist jetzt 32 Jahre alt. Ihr neuer Roman „The Shards“ ist der erste seit 13 Jahren. Viele dachten schon, Sie bringen’s nicht mehr. Aber nun ist die Kritik begeistert, manche halten das neue für Ihr bestes Buch. Wussten Sie die ganze Zeit, dass Sie es noch drauf haben?
Nicht alle Kritiker sind begeistert. Jedenfalls in den USA: manche fanden’s gut, manche fanden’s nicht so gut, manche fanden es richtig schlecht. Von den Amazon-Bewertungen ganz zu schweigen. In den USA wirke ich polarisierend. Aus irgendeinem Grund ist man in Europa netter zu mir.
In den letzten zehn, zwölf Jahren haben Sie lieber Podcasts produziert und Drehbücher statt Romane geschrieben. Woran sind Sie all die Jahre gescheitert?
Ich habe noch nie in meinem Leben mit einem Roman gekämpft. Ich liebe Romane. Ich liebe es, Romane zu schreiben. Ich bin nur in den letzten 13 bis 15 Jahren in die falsche Richtung abgebogen, indem ich Filmemacher sein wollte. Ich steckte in Hollywood in den verschiedensten Projekten – an denen mir viel lag. Ich war begeistert von meinen Drehbüchern. Ich dachte, das würden großartige Filme!
Aber nichts hat geklappt?
Doch, es wurden Drehbücher verfilmt, und demnächst, vielleicht im Herbst, werde ich endlich Regie führen. Aber Sie glauben nicht, wie weit der Weg dahin ist. Wie viele Projekte scheitern. Hollywood ist wie ein Casino: Du hast das Gefühl, dieses Mal gewinnst du und der Einsatz wird sich auszahlen, immer wieder, aber das Ganze kann jederzeit platzen – und plötzlich sind 13 Jahre um.
Also haben Sie sich doch wieder dem Romanschreiben zugewandt.
Ich habe nicht versucht, einen Roman zu schreiben. Es passierte plötzlich. Ich fühlte den Roman auf einmal, nachdem ich sehr lange nichts dergleichen gefühlt habe.
In Interviews hatten Sie in der Zwischenzeit gesagt, Sie hätten kein Interesse mehr am Romanschreiben, Sie glaubten nicht mehr an den Roman als Medium.
Das sind verschiedene Dinge. Ich habe keinen Roman gefühlt, also konnte ich keinen schreiben. Zugleich glaube ich, dass die große Zeit des Romans vorbei ist. Romane sind nicht mehr Teil des Diskurses der Intelligenzia. Das heißt nicht, dass niemand mehr liest. Schauen Sie ins Internet: alles voller Buchgruppen und Buchclubs.
Aber?
Die Buchkultur ist nicht mehr im Zentrum des öffentlichen Lebens, wie damals, als ich aufwuchs. Die Dinge, die wir liebten, verlieren an Bedeutung. Auch das Erzählkino stirbt: Im Kino laufen Superhelden und Blockbuster, den Rest haben die Streamingdienste übernommen.
Bedauern Sie das?
Selbstverständlich! Ich bin 59 Jahre alt! Ich bin voller Bedauern und Nostalgie darüber. Nichts, was Bücher und Filme ersetzt hat, ist besser. Drei Stunden TikTok verglichen mit „Apokalypse Now“? Wollt ihr mich verarschen?!
In Ihrem neuen Roman mischen Sie Autobiografie mit den Thriller- und Sexmotiven, die Sie berühmt gemacht haben. Ihre Hauptfigur heißt wie Sie, arbeitet im Jahr 1981 an Ihrem Debüt „Unter Null“ und hängt mit seiner Teenie-Clique aus reichem Hause in Los Angeles rum, mit Partys, Drogen, Sex. Warum kehrten Sie zu Ihrem alten Motiv zurück, dem dekadenten Los Angeles von 1981, statt die Handlung heute spielen zu lassen und die Gegenwart zu kommentieren?
Sie unterstellen, ein Buch sei eine Entscheidung. Ist es aber nicht. Es kommt zu mir. Ich fühle es. So war es im April 2020: Ich war allein zu Hause, wurde nostalgisch, dachte an meine Highschool-Freunde, die Musik dieser Zeit: Ultravox, kennt die noch jemand? Blondie? Plötzlich holte mich alles wieder ein. Mir fiel dieses Mädchen ein, mit dem ich ging, und der Junge, mit dem ich Sex hatte, und wie sehr ich sie vermisste und was ich alles falsch gemacht hatte. Ich wollte diesen Roman schon immer schreiben, nun konnte ich es.
Was war der Schlüssel?
Ich begriff, dass ich mich nicht mehr in diese Zeit versetzen kann, sondern aus meiner heutigen Perspektive darüber schreiben muss. Als ich 18 war und mittendrin steckte, bekam ich es nicht hin. Aber nun bin ich Ende 50! Das war die Lösung: Der Erzähler blickt zurück auf sich selbst, so ehrlich wie möglich.
Heißt das, in „The Shards“ kann man Ihre Reflexion über die heutige Zeit finden?
Sagen Sie’s mir.
Ich denke schon. Zum Beispiel wird der Ich-Erzähler, Bret, von einem älteren Filmproduzenten bedrängt, gibt nach und lässt sich auf Sex mit ihm ein – auch, weil er sich Hilfe im Filmbusiness erhofft. Es braucht nicht viel Fantasie, das als Kommentar auf Harvey Weinstein und die MeToo-Bewegung zu lesen.
Das ist mir aber wirklich so passiert, mit einem älteren Filmproduzenten im Beverly Hills Hotel. Aber es war kein Übergriff. Es gab keine Machtdynamik. Ich dachte nur, er würde mir helfen, mein Drehbuch zu verfilmen. Es waren andere Zeiten. Gerade sagte mir eine Frau in meinem Alter, die in den 80ern Schauspielerin werden wollte: Hätte ich gewusst, dass ich dem Produzenten nur einen blasen müsste, wäre ich nicht zwei Monate lang erfolglos von einem Vorsprechen zum nächsten gegangen. Diese Generation sieht das ganz anders als die heutige.
Sie sprechen oft über die heutigen Millennials und die „Generation Z“. Was ist bei denen anders?
Sie blicken fast schon puritanisch auf Sex und mit einem fast kindischen Blick auf Beziehungen zwischen Erwachsenen. Was heißt schon „Machtdynamik“? Die Macht liegt doch bei der jungen Person, die schön genug ist, dein Leben zu korrumpieren.
Zur Person
Bret Easton Ellis wurde 1964 in Los Angeles geboren. Als Kind wohlhabender Eltern wuchs er in Hollywood auf, besuchte die private Buckley School und begann 1986 ein Musikstudium am Bennington College in Vermont. Er spielte in Bands und wollte zunächst Musiker werden. Seinen ersten Roman, „Unter Null“ (1985), veröffentlichte er mit 21 Jahren.
„American Psycho“ (1991), sein drittes Buch, machte Ellis weltberühmt. Es galt wegen der nüchtern-satirisch geschilderten Gewalt- und Sex-Exzesse zunächst als Skandalroman, in Deutschland war es von 1995 bis 2001 indiziert. Ellis war 1987 nach New York gezogen und schrieb dort insgesamt fünf weitere Romane, stets mit autobiografischen Zügen. 2006 ging er zurück nach Los Angeles und stieg auch ins Film- und Seriengeschäft ein.
„White“ heißt sein erstes nonfiktionales Buch, 2019 veröffentlicht. Neben autobiografischen Themen setzte sich Ellis, nach eigenen Angaben ein „enttäuschter Linksliberaler“, darin mit der US-Gesellschaft der Gegenwart auseinander. Im Fokus seiner Kritik stehen dabei eine fehlende Debattenkultur und die Selbstgerechtigkeit wohlhabender Liberaler, in der er einen der Gründe für den Aufstieg und Wahlsieg Donald Trumps sieht.
Sein neuer Roman „The Shards“ ist erneut ein autobiografisch geprägtes Werk, der 1981 spielt und dessen Hauptfigur den Namen Bret Ellis trägt. Eine Clique Jugendlicher aus reichem Hause in Los Angeles konsumiert Drogen, sammelt sexuelle Erfahrungen und feiert Partys – auch, als ein Serienmörder unter ihnen sein Unwesen treibt und sich Misstrauen zwischen Sex, Eifersucht und jugendlichen Leichtsinn mischt. Auf Deutsch bei Kiepenheuer & Witsch, a. d. Engl. v. v. Stephan Kleiner, 736 Seiten, 28 Euro.
Meinen Sie das ernst? Der Punkt ist doch: Wenn es ein Machtgefälle gibt, ist Sex nicht wirklich einvernehmlich.
Natürlich: Vergewaltigung ist nicht gut! Man vergewaltigt keine Menschen! Aber es wird übertrieben, wenn es um die Karrieren von Männern geht oder was sie gesagt oder wen sie unangemessen berührt haben. Heute scheint jeder ein Kind bleiben zu wollen, um nicht in die korrupte Erwachsenenwelt eintreten zu müssen. Sogar über die Sexszenen in meinem neuen Buch, die ja aus Sicht eines 17-Jährigen erzählt sind, gab es Beschwerden.
Heißt das, Jüngere lesen Ihr Buch anders als Ältere?
Ich hoffe nicht. Ich hoffe, Bücher sind universell. Aber wahrscheinlich liest es ein Jüngerer mit ideologischem Blick: Wie bewertet der Autor das Verhalten der Figuren? Es ist schrecklich.
Muss Kunst heute einen moralischen Kompass an die Welt anlegen?
Nein, nein, nein, sie muss authentisch sein und sich einem ästhetischen Stil verpflichten. Alles andere ist egal. Bei großer Kunst geht es nicht darum, welche Künstler sie erschaffen, welche Hautfarbe sie haben, ob sie Penis oder Vagina haben. Es geht um Stil, um eine Perspektive. Leider läuft es in diese Richtung: Man fragt nach dem Künstler, hat lange Listen, was er darf und was nicht. Ich wollte von Kunst immer schockiert, entrüstet, herausgefordert werden – sei es von Shakespeare oder Scorsese. So kraftvolle Werke könnten heute gar nicht mehr entstehen, wegen dieser Regeln und weil jeder geschont werden will.
Dabei wurde sie doch aufgezogen von der Generation, die all die sarkastischen, ironischen, zynischen Bücher und Filme der 80er und 90er hervorbrachte und liebte.
Das ist die große Ironie, die Tragödie daran! Meine Altersgenossen, die „Generation X“ der 80er und 90er, wollte es besser machen als ihre Boomer-Eltern, von denen sie sich alleingelassen fühlten.
Das ist der Alltag der Jugendlichen, den Sie in „The Shards“ beschreiben.
Genau, und ich fand es super so. Aber ich habe keine Kinder. Meine Freunde, die Eltern sind, erzählen mir jedoch heute, dass sie es bereuen, ihre Kinder so verwöhnt und bewacht zu haben: „Ich kann nicht glauben, was ich meinen Kindern angetan habe, wozu ich sie gemacht habe, wozu die Schule sie gemacht hat.“ Jeder soll ein Gewinner sein. Die Schnell-Lern-Klassen werden abgeschafft, weil sie unfair sind. Bloß niemanden aufregen!
In Ihren Podcasts und Essays haben Sie das als Verlust an Freiheit beschrieben: Meinungsfreiheit, Debattenkultur, Kunstfreiheit. In „The Shards“ schreiben Sie nun über die vermeintlich freiere Zeit der 80er, von Popkultur und Gesellschaft ohne politische Korrektheit oder Rücksicht auf Frauen oder Minderheiten. Nur sind die Teenies mit der Freiheit, die ihre Eltern ihnen lassen, überfordert. Und Ihr Ich-Erzähler fühlt sich unfrei, weil er sich nicht als schwul outen kann. Die gute alte Zeit war also gar nicht so frei, oder?
Egal, wie man es dreht: Das Leben ist grausam, die Menschen sind Heuchler. Irgendwann ist jeder mal Opfer. Dass ich unter dem heimlichen Schwulsein litt, war eine bestimmte Phase in meinem Leben. 1980 und 81 florierte San Franciscos Gay-Community, in West Hollywood war alles voller Schwulenbars, dasselbe in Manhattan und in Städten im ganzen Land. Ich hatte einfach das Problem, 17 oder 18 zu sein und kein Außenseiter sein zu wollen. Ich hatte Angst, nicht genügend Sex abzubekommen, weil die Auswahl an schwulen Jungs an meiner Schule so klein war. Aber ich war nie ein geschundener Schwuler. Schon auf dem College war ich darüber hinweg.
Und doch haben Sie es jahrelang geheim gehalten.
Ich habe meine Identität nie als „schwul“ definiert. Ich widersetzte mich der Idee, als schwuler Schriftsteller bezeichnet zu werden. Ich wollte nicht, dass meine Bücher in den Buchhandlungen in die Abteilung schwuler Autoren gestellt werden, hinten im Laden, bloß nicht ins Schaufenster! Heute will ich immer noch nicht als schwuler Schriftsteller abgestempelt werden. Aber jetzt, mit 59, ist es mir egal. Nennen Sie mich, wie Sie wollen. Nennen Sie mich einen schwulen Schriftsteller. Ich bin ein alter schwuler Schriftsteller. Egal.
Das ist ja das Schöne am Altern: Alles wird egal. Nur scheinen sich die Alten heute viel mehr über die modernen Zeiten aufzuregen als früher.
Das glaube ich nicht. Denken Sie an die 40-Jährigen, die die Beatles gehasst haben, als ihre Kinder sie hörten. Und davor? Elvis wurde zensiert! So war es schon immer.
Dann könnten Sie doch gelassener mit der jungen Generation umgehen.
Ich bin gelassen. Okay: Eine Zeit lang war ich viel wütender. Als die ganze westliche Welt – zwischen 2015 und 2018 – so politisiert war. Jeder schien seinen Verstand zu verlieren – mich eingeschlossen! Blöderweise kam da gerade mein Essayband „White“ raus, in dem ich über all diese Generationsfragen schrieb – und prompt wurde ich als rechter, konservativer Trump-Fan hingestellt! Dabei wollte ich nur diejenigen verstehen, die Trump gewählt hatten. Ich wurde als Verräter beschimpft, jeder war mürrisch. Da waren die jungen Leute viel wütender als die alten!
Das ist ja immer so. Aber warum können die Alten das nicht gelassener hinnehmen?
Sie sind so verdammt optimistisch! Warum kann nicht alles einfach wundervoll sein? Kann es nun mal nicht! Sie werden mich auf keinen Fall von der Überzeugung abbringen, dass wir 1981 besser gelebt haben als heute. Ich fand es nervenkitzelnd und verrucht und spannend, heimlich schwul zu sein. Ich habe dieses Ideal vom unangepassten schwulen Künstler bewundert, wie es ihn heute nicht mehr gibt: von Truman Capote über Tennessee Williams bis zu James Baldwin – eine schwule, wütende Rebellion gegen die Gesellschaft.
Dass Schwule heute akzeptiert sind, macht es langweilig?
Alles ist so homogenisiert. Alle tragen schöne Pullover und posieren mit ihren Babys und ihrem Ehemann auf Instagram. Für mich waren zwei der coolsten Dinge am Schwulsein: Man durfte nicht zur Armee und nicht heiraten. Heute ist Schwulsein Mainstream. Gut. Ich sollte wohl froh sein, dass es so ist.