„Lügen gehört zu Putins System“

Die Historikerin Galia Ackerman spricht im Interview über das Markenzeichen des Kreml, genozidäre Kolonialpolitik und deutsche Blindheit.
Frau Ackerman, auf einer ukrainischen Demonstration in Paris wurde jüngst skandiert: „Putin – Krimineller, Mörder, Terrorist!“ Stimmt das?
Die Bezeichnungen treffen objektiv zu. Die Kriegsverbrechen der russischen Armee in Butscha und anderswo sind heute belegt. Es begann aber schon lange vor dem Krieg in der Ukraine. Im Tschetschenien-Krieg setzte Putin den Terror gegen die Zivilbevölkerung ein. Er ließ zivile Gebäude sprengen, um diese Akte dann den Tschetschenen in die Schuhe zu schieben. In Mariupol gab es auch Schläge gegen Schulen und Hospitäler. Das sind Kriegsverbrechen.
Sie beschreiben Putins Regime als korrupt, kleptokratisch und mafiös.
Putin hat sein Land buchstäblich privatisiert und an seine Freunde verteilt. Zugleich unterdrückt er die öffentlichen Freiheiten und verschreibt seinem Land eine imperialistische Politik gegen ein Land, das ihm nichts angetan hat, mit einem Krieg, den er nicht so nennt. Eine Unwahrheit mehr.
Sie zitieren in Ihrem Buch den russischen Systemkritiker Alexander Solschenizyn, der sagte, dass ein Gewaltregime notgedrungen ein Lügenregime sei.
Lügen ist das Markenzeichen des Putin-Regimes, so wie es ein Markenzeichen des KGB war. Sogar die Massaker von Butscha suchten sie den Ukrainern anzukreiden. Vor wenigen Tagen behauptete die russische Armeeführung, sie habe in Kramatorsk als Rache für den Silvesterangriff der Ukrainer 600 ukrainische Soldaten getötet. In Wahrheit wurden zwei Schulen und acht Wohnhäuser getroffen, in denen sich keine Soldaten verschanzt hatten. Lügen gehört zu Putins System. Er tut das nicht nur zu Propagandazwecken, sondern auch, um die Leute zu verwirren. Als der russische Oberst Sergei Skripal in London vergiftet wurde oder als Flug MH17 abgeschossen wurde, reagierte der Kreml gleich: Er publizierte mehrere Versionen, die sich zum Teil sogar widersprachen. Das war kein Versehen, sondern der Versuch, die Wahrheit mit einem Lügengeflecht zu überlagern, damit nichts mehr gesichert scheint. So wissen die Leute nicht mehr, was sie glauben sollen.
Betreibt Putin auch eine genozidäre Politik?
Ja, wenn man das nicht nur an hand der Menge ermordeter Menschen wertet, sondern auch an der Absicht, eine Nation auszulöschen, wie es Putin mit der Ukraine vorhat. Im Zweiten Weltkrieg begann der Genozid der Nazis an den Juden auch nicht erst mit der Wannsee-Konferenz; die Absicht war viel älter. In Moskau zirkulieren Publikationen und Meinungen, die offen zur Vernichtung der Ukrainer aufrufen. Ein Genozid ist nicht nur ein Massenmord, er besteht auch darin, einem Volk die Identität, Freiheit und die Religion abzusprechen. Und das geschieht heute in der Ukraine.
In Ihrem „Schwarzbuch“ steht, der wichtigste Unterschied zwischen Putin und Hitler sei der, dass es den Nazis gelungen sei, eine Massenbewegung zu organisieren. Abgesehen davon, ist der Vergleich zulässig?
Sinnvoller ist der Vergleich mit Stalin. Putin verherrlicht ihn mehr und mehr. So auch über den „Großen Vaterländischen Krieg“, wie der Zweite Weltkrieg in Russland genannt wird. Das „unsterbliche und unbesiegbare“ Volk wird glorifiziert. In Petersburg wurden Riesenporträts von Weltkriegsveteranen an die Hausfassaden gehängt. Die Ehre, für das Vaterland zu sterben, wird fast wie ein Todeskult zelebriert.
Hatte Westeuropa das alles bis zur Invasion 2022 verdrängt?
Zweifellos. Wir alle wollten glauben, dass Russland nach dem Fall der Sowjetunion wieder ein normales Land sei. Als Putin sagte, er werde seinem Land die „Größe“ zurückgeben, sahen wir nicht, wie gefährlich diese Ankündigung war. Wir verziehen ihm, als er Tschetschenien drangsalierte, und auch, als er Georgien zum Krieg provozierte. Nur die Aufnahme Georgiens in die Nato hätte Putin wohl abgehalten, seine Pläne umzusetzen.
Worauf stützen Sie diese Ihre Annahme?
Putin begann erst nachher, seine Armee zu reformieren und die Gesellschaft – bis in den Schulunterricht hinein – zu militarisieren. Heute wissen wir, dass er auch das Erdgas als Waffe einsetzt. Doch die Deutschen wollten das nie sehen. Sie meinten, es gehe mit Putin nur um Handel und Wirtschaft.
War der deutsche Staat naiv?
Eher blind. Deutschland hat sich wirksam entnazifiziert, aber es hat ein sehr starkes Schuldgefühl gegenüber Russland bewahrt. Deshalb bekunden die Deutschen soviel Mühe, Waffen an den militärischen Gegner der Russen zu liefern. Sie übersehen, dass Russland keineswegs der einzige Erbe der Sowjetunion ist. Belarus und die Ukraine haben unter der Invasion der Wehrmacht ebenfalls gelitten. Sie blieben jedoch eine Art weißer Fleck für die deutsche Ostpolitik. Dabei hätte Deutschland seit der Naziherrschaft eine ebenso große Verantwortung für die Ukraine.
Wie schätzen Sie Emmanuel Macrons Haltung ein?
Der französische Präsident wünscht den Sieg der Ukraine, er schickt ihr ja neuerdings auch leichte Panzerfahrzeuge. Zugleich will er aber auch bei der Suche nach einer Friedenslösung mitwirken und vermitteln. Deshalb sagt er, man dürfe Russland nicht demütigen.
Welche Zukunft sagen Sie Wladimir Putin voraus?
Ich glaube nicht an einen schnellen Sturz seines Regimes, auch wenn es auf der Lüge basiert. Polizei und Armee bleiben ihm vorläufig treu. Machthaber wie Putin oder auch Alexander Lukaschenko sind sehr schwer abzulösen.
Kann man mit dem Mann im Kreml verhandeln?
Nein, es gibt mit Putin nichts zu verhandeln, solange er ein souveränes Nachbarland besetzt. Nachher, ja. Vorläufig aber ist es ein Kampf um die Unabhängigkeit eines Landes, und auch um unsere Freiheit.
Die Demokratie hat noch immer über den Faschismus gesiegt. Wird das jetzt wieder so sein?
Früher hätte ich die Frage unbesehen bejaht. Die aktuelle Epoche macht mich aber unsicher. Diktatorische Regimes wie in Nordkorea halten sich seit langem. Die chinesischen Kommunisten seit 1949. Und die westlichen Gesellschaften sind geschwächt, sie leiden unter dem Aufkommen der Populisten, dem Niedergang der Parteien und Parlamente sowie einem tiefen Bruch durch die Gesellschaften. Es ist traurig und penibel zu sehen, dass der Autoritarismus weltweit an Boden gewinnt.
Interview: Stefan Brändle
Galia Ackerman (74) kämpft als Chefredakteurin der englisch- französischen Medienplattform „Desk Russie“ gegen Desinformation. Seit 2014 kann die Dissidentin nicht mehr nach Russland einreisen. 2019 hat sie ein Buch über „Putins heiligen Krieg“ auf Französisch veröffentlicht.
Auf Deutsch ist just das „Schwarzbuch Putin“, erschienen, herausgegeben von ihr und dem Russlandkenner Stéphane Courtois. Diese Ausgabe enthält neben den russischen und französischen Beiträgen auch drei aus deutscher Sicht: von Katja Gloger, Claus Leggewie und Karl Schlögel. brä Bild: privat
