Kleiner Staat mit riesigen Problemen

Die Menschen in der Republik Moldau spüren die Nähe des Krieges, der auch ihre Stromversorgung stark gefährdet. Der Kampf um jedes Kilowatt stellt das Land auf eine harte Probe.
Veronica Mocan blickt auf den Tisch, auf dem im Frühjahr Kinder schliefen. Das von der österreichischen Hilfsorganisation Concordia 2008 gegründete Zentrum in der Kleinstadt Tudora platzte kurz nach dem russischen Überfall am 24. Februar aus allen Nähten. Die Menschen flüchteten aus der Ukraine über die Südgrenze in die Republik Moldau. Sie übernachteten in jeder Nische des Gemeindezentrums.
Sollte jetzt im Winter die Strom- und Wärmeversorgung in der Ukraine völlig zusammenbrechen, könnte es wieder eng werden im Zentrum, meint die Leiterin. Die Ukrainer würden über die Grenze nach Moldau flüchten, bevor sie erfrieren. Mocans Smartphone piept unablässig. Anfragen nach Essenspaketen, Kleiderspenden oder einem Dach über dem Kopf prasseln im Minutentakt auf sie ein.
Vielleicht wird im Januar oder Februar alles noch schlimmer als im vergangenen Frühjahr. Dann könnten auch die Bewohner:innen von Tudora hungernd und frierend an die Tür des Zentrums klopfen, fürchtet die Leiterin.
Die Republik Moldau balanciert seit Wochen am Rande des Abgrunds. Die Stromversorgung ist seit der Sowjetzeit mit den ukrainischen Leitungen verknüpft. Kraftwerke in der Ukraine produzieren 20 Prozent des in Moldau verbrauchten Stroms. Die russischen Angriffe auf die ukrainische Stromversorgung schickten im November Schockwellen durch das Netz der kleinen Republik am Schwarzen Meer. Nach den Luftattacken auf Kraftwerke und Relaisstationen in der Ukraine gingen in Moldau die Lichter aus.
Ingenieur:innen brachten den Strom nach Stunden wieder zurück in die dunklen Stuben von 2,6 Millionen Moldauer:innen. Die um jedes Kilowatt kämpfende Ukraine stellte ihren Stromexport nach Moldau ein. Der Plan in der Hauptstadt Chisinau, die Lücke mit Lieferungen aus dem westlichen Nachbarland Rumänien zu decken, scheiterte an zu hohen Kosten.
Die EU beschloss zwar im November, Kredite und Darlehen in Höhe von 250 Millionen Euro zu gewähren. Aber das Geld wird erst im kommenden Jahr bereitstehen. Moldau ist das ärmste Land Europas und seit dem 23. Juni 2022 EU-Beitrittskandidat. Eine Inflation von knapp 35 Prozent im Oktober, die bittere Not der eigenen Bevölkerung und die Versorgung von 90 000 Kriegsflüchtlingen haben das enge Budget schon aufgebraucht.
Ausgerechnet der Feind auf dem eigenen Staatsgebiet soll die Menschen nun vor Elend und Chaos im Winter bewahren. Die Republik Moldau erklärte sich 1991 für unabhängig von der Sowjetunion. Die Sowjets hatten nur ein mit Gas befeuertes großes Kraftwerk auf moldauischem Boden errichtet. Und die Anlage, die den Namen Cuciurgan trägt, produziert bis heute 70 Prozent des moldauischen Strombedarfs. Sie befindet sich in der abtrünnigen Region Transnistrien. Russische Armee-Einheiten garantieren seit dem Ende des Krieges 1992 die Existenz des sowjetnostalgischen Pseudostaats mit Hammer und Sichel in der Flagge.
Russland hat die Regierung in Chisinau in den vergangenen Monaten in eine Falle manövriert, fürchten daher Kritiker:innen. Der russische Gaskonzern Gazprom reduzierte seine Gaslieferungen im Oktober um 30 Prozent. Chisinau und Kiew warfen Gazprom Erpressung vor.
Die Separatistenregion Transnistrien erhielt gleichfalls weniger Gas aus Russland über die Moldau versorgende und über die Ukraine verlaufende Leitung. Die Separatisten fuhren die Leistung des Gaskraftwerks Cuciurgan herunter und behielten den Strom für sich. Moldau stand Ende November mit dem Rücken zur Wand. Die westlich orientierte Regierung der Präsidentin Maia Sandu entschied sich dafür, die Stromversorgung Moldaus zu retten, indem sie ausgerechnet mit den Feinden in Transnistrien einen Pakt schloss. Die Separatistenregion soll künftig das ganze Gas erhalten, das Russland noch liefert. Transnistrien verpflichtet sich in dem Abkommen dafür, mit dem Gas genügend Strom zu erzeugen und wieder Moldau zu beliefern. Moldaus Strom- und Wärmeversorgung ist folglich abhängig von der Vertragstreue der russisch kontrollierten Separatistenregion.
Zurück nach Tudora: Veronica Mocan erzählt, dass jede Familie in der rund 2100 Einwohner zählenden Kleinstadt seit der Gründung des mit österreichischer Unterstützung 2008 gegründeten Gemeindezentrums mindestens einmal um Lebensmittelpakete oder Kleiderspenden gebeten hat. „Selbst unser Bürgermeister stand einmal in meinem Büro, weil er für seine Familie Hilfe brauchte.“
Die kriegsbedingte Inflation hat Tudora aber noch tiefer ins Elend gestürzt. „Wir haben uns im Frühjahr auf die Unterstützung der Flüchtlinge aus der Ukraine konzentriert. Inzwischen braucht jeder in der Stadt unsere Hilfe“, sagt Mocan. Laut dem UN-Entwicklungsprogramm UNDP sind 63 Prozent der Bevölkerung in der Krise verarmt.
Tudora verfeuert in der Not die eigene Zukunft. Die Einwohner:innen fällen ihre Pfirsichbäume und zerhacken sie zu Brennholz. Die Stadt sei bekannt für ihre Pfirsiche, erzählt Mocan. Ganze Plantagen verwandeln sich jetzt in Brennholzstapel. „Wir werden 2023 kaum noch Pfirsiche verkaufen können“, meint Mocan.
Galina Rusu empfängt ihre Besucher:innen vor einem durchnässten Haufen Brennholz. Die 35-Jährige lebt mit ihren Töchtern in einer nach Moder riechenden Hütte.
Die alleinerziehende Mutter erzählt, dass sie das Holz den ganzen Sommer für ihren Nachbarn gehackt hat. Dafür habe sie als Lohn einen Teil davon behalten dürfen. Essen und Kleidung erhält Rusu von Veronica Mocans Organisation. In Wirklichkeit heißt die Mutter anders – die Organisation Concordia legt Wert darauf, die Anonymität ihrer Klient:innen zu wahren. Das Brennholz, erzählt die Mutter, reiche, um einen Raum für sich und ihre Töchter zu heizen. Obwohl das Holz im Ofen knistert, nimmt Rusu in ihrem Schlaf- und Wohnzimmer die Mütze nicht ab. Ohne die Hilfe von Concordia müssten ihre Kinder und sie hungern. Alles sei so teuer geworden, klagt sie. „Unsere Präsidentin Maia Sandu ist an allem schuld“, zischt sie.
Veronica Mocan und ihre Helfer:innen schweigen betreten. Nachdem sie Rusus Hütte verlassen haben, berichten sie, wie ihre Klientin sich in den vergangenen Wochen Geld zum Überleben verdient hat. „Sie ist zu den Protesten gegen die Regierung nach Chisinau gefahren und jemand hat ihr dort einen Schein in die Hand gedrückt“, sagt Mocan.
Zehntausende forderten im September bei Demonstrationen in der Hauptstadt die Präsidentin auf, nach Moskau zu reisen, und Kremlchef Putin um mehr Gas für Moldau zu bitten. Der Hoffnungsträger der Regierungsgegner:innen, der Oligarch und Oppositionspolitiker Ilan Shor, schaltete sich aus dem Exil dazu. Der 35-Jährige gilt Reformorientierten als Personifizierung aller Übel ihres Landes. Er brüstet sich damit, sein Geschäftsimperium mit 13 gegründet zu haben. Er stieg zu den reichsten Männern Moldaus auf und führt die SOR-Partei. Er tritt mit linkspopulistischen Parolen als Anwalt der kleinen Leute auf. Ein Gericht verurteilte den Politiker wegen angeblicher Verwicklung in einen Bankraub 2014 zu einer mehrjährigen Haftstrafe. Das Berufungsverfahren läuft. Shor entzog sich 2019 dem Zugriff der Behörden und floh nach Israel. Dennoch gilt er als Maia Sandus gefährlichster Gegner.
Der moldauische Politologe Iulian Groza von der Denkfabrik Ipre ist überzeugt, dass Shor Demonstrierende gekauft hat: „Viele wussten gar nicht, wogegen sie protestieren. Aber alle erzählten von dem Geld, das ihnen für die Teilnahme gezahlt wurde.“ Dennoch glaubt Groza, dass nicht nur Shor weiter am Stuhl der Präsidentin sägt. Der Oligarch arbeite genau wie Sozialisten und Kommunisten im Parlament mit Unterstützung Moskaus am Sturz der Regierung. Der Experte sagt, dass die Ukraine der militärischen schwachen Republik Moldau den Rücken freihalte. „Russland führt gegen uns einen hybriden Krieg. Aber solange die Ukraine standhält, müssen wir keinen konventionellen führen.“
Die Autonome Region Gagausien im Südosten der Republik Moldau bereitet ihm besondere Sorgen. Die rund 160 000 Gagaus:innen sind türkischstämmig, aber christlich-orthodox. Sie sprechen in der Mehrheit Russisch und misstrauen nach Massakern im Zweiten Weltkrieg unter Rumäniens Diktator Ion Antonescu den Rumänisch sprechenden Moldauer:innen. Gagausische Demonstrierende forderten bei Protesten im Sommer die Regierung in Chisinau auf, die Energie- und Wirtschaftskrise zu lösen. Ansonsten würde die Region die alte Schutzmacht Russland um Hilfe bitten.
Groza sagt, dass die Türkei das Schlimmste verhindert habe: „Die Gagausen erhalten viel Hilfe von Ankara. Und die Türkei hat deutlich gemacht, dass sie eine Abspaltung von Moldau strikt ablehnt.“ Dennoch bleibe Gagausien das Risiko Nummer eins für Moldaus Stabilität.
Die Journalistin Ana Dmitriewa arbeitet für das Onlinemedium Nokta. „Wir sind das einzige Medium in Gagausien, das nicht die russischen Nachrichten nachplappert. Dafür hassen uns viele.“ Sie glaubt, dass die Zukunft der Autonomieregion und der ganzen Republik Moldau von den Entwicklungen auf den Schlachtfeldern in der Ukraine abhängt. „Als der Krieg anfing, haben sich viele schon gefreut, dass die Russen auch bald hierherkommen. Jetzt, wo es nicht mehr gut läuft für Russland, sind sie vorsichtiger“, sagt Dmitriewa. In Comrat, der Hauptstadt der Region, wachse die Wut auf die Regierung in Chisinau allerdings täglich mit den Preisen.
