Kaum noch Hoffnung für die Vermissten

Wie viele Menschen beim Lawinenunglück in den Dolomiten gestorben sind, ist unklar / Fachleute sehen Hitze als Ursache
Den Rettungsteams bietet die Unglücksstelle ein schreckliches Bild. Sie haben Mühe, ihre Emotionen zurückzuhalten. „Auf einer Länge von mehr als tausend Metern haben wir Leichenteile inmitten eines Meeres aus Eisblöcken und Felsen gefunden“, berichtete Gino Comelli vom „Soccorso Alpino“ in den Dolomiten. In den vielen Jahren, in denen er als Bergretter tätig sei, habe er noch nie eine so schlimme Szene gesehen.
Die vorläufige Bilanz des schlimmsten Bergunfalls der vergangenen Jahrzehnte in Italien: Acht Tote, acht Verletzte und noch bis zu 15 Vermisste. Laut Sandro Raimondi, dem Staatsanwalt von Trient, kann sich die Zahl der Toten noch mehr als verdoppeln, die Wahrscheinlichkeit, die Vermissten lebend zu finden, ist laut Behörden „praktisch gleich null“. Die Zahlen, wie viele Menschen vermisst werden, schwanken: Der Nachrichtenagentur Ansa zufolge galten am Montag 20 Menschen als vermisst.
Wer in die Lawine aus Eis und Fels geraten war, hatte kaum eine Chance: Die Eis- und Felsmassen donnerten mit rund 300 Stundenkilometern ins Tal und kamen erst nach 1,5 Kilometern zum Stehen. Das Trümmerfeld hat eine Dicke von zehn bis 15 Metern – ein schwieriges Terrain für die Bergrettungsteams: Bei den überdurchschnittlich hohen Temperaturen können sich oben beim Gletscher jederzeit neue Blöcke lösen – eine Bedrohung für die Helfer:innen. Die Suche nach weiteren Opfern erfolgt daher wo immer möglich aus dem Hubschrauber und mit Drohnen. Die Verletzten waren nicht in die Lawine geraten, sondern von der Druckwelle weggeschleudert worden. Regierungschef Mario Draghi reiste am Montag ins Unglücksgebiet.
Die Lawine hatte sich am Sonntag um 13.45 Uhr nahe des höchsten Dolomiten-Gipfels, der 3343 Meter hohen Marmolada, ereignet. Einige hundert Meter oberhalb des nicht allzu schwierigen Weges löste sich auf etwa 200 Metern Breite und 60 Metern Höhe ein riesiger Eisblock vom Marmolada-Gletscher und riss eine oder mehrere Seilschaften mit sich. „Wir hörten einen lauten, dumpfen Knall, dann sahen wir, wie wenige Meter unter uns drei Bergsteiger von den Eis- und Felsmassen erfasst wurden“, berichtete der Augenzeuge Mauro Baldessari. Er und seine Seilschaft hätten nur dank eines Zufalls überlebt: Sie hätten auf einen Kameraden warten müssen, der zurückgeblieben sei. „Das war unsere Rettung“, sagte er sichtlich geschockt. Der ganze Berg wurde nach dem Unfall gesperrt, Dutzende Menschen, die sich auf dem Gipfel befanden, wurden mit Hubschraubern ins Tal geflogen.
Während die Zahl der Todesopfer am Montag noch unklar war, steht die zentrale Ursache für den Gletschersturz laut Fachleuten fest: „Solche Ereignisse haben zwar meist mehrere Ursachen, aber es ist offensichtlich, dass der Abbruch von gestern auf den Klimawandel zurückzuführen ist“, erklärt der Glaziologe Renato Colucci von der Universität Triest dem „Corriere della Sera“. Am Tag des Unglücks habe die Null-Grad-Grenze bei 4400 Meter gelegen, auf dem Marmolada-Gipfel betrug die Temperatur sieben Grad, am Tag zuvor zehn Grad. Schon im Mai und Juni seien in den Dolomiten und großen Teilen der Südalpen weit überdurchschnittliche Temperaturen registriert worden. Im Winter habe es kaum geschneit, somit fehle nun die Schneedecke, die die Gletscher im Sommer normalerweise vor der Sonne schütze. Die Eismassen seien dadurch instabil.
Colucci und seine Kolleginnen und Kollegen vom nationalen Forschungsinstitut CNR hatten schon vor Jahren darauf hingewiesen, dass der Marmolada-Gletscher zwischen 2004 und 2015 ganze 30 Prozent seines Volumens und 22 Prozent seiner Fläche verloren habe. „Auf 3500 Meter Höhe ist ein Klima entstanden, das die Präsenz von Gletschern bereits mittelfristig ausschließt: Der Marmolada-Gletscher wird 2050 nicht mehr existieren, vielleicht verschwindet er auch schon mehrere Jahre früher“, sagt Colucci. Der beschleunigte Schwund der Gletscher werde zu einer immer größeren Gefahr für die Bergsteiger:innen und Wandernde: „Unglücke wie dieses werden sich wiederholen.“
Ganz Italien leidet seit Wochen unter extremer Trockenheit und Hitze. Sechs Regionen haben den Notstand ausgerufen und die Rationierung von Wasser angeordnet. Für Fachleute kommt die Dürre nicht überraschend: Italien gilt als Hotspot des Klimawandels. Letzten Sommer wurde auf Sizilien mit 48,8 Grad Celsius die höchste je in Europa gemessene Temperatur registriert; in Rom und Perugia sind die Durchschnittstemperaturen seit 2000 um zwei Grad gestiegen. Bei geringeren Jahres-Niederschlagsmengen nehmen gleichzeitig die Extrem-Ereignisse zu: Sintflutartige Wolkenbrüche mit 500 Millimetern Niederschlag in 24 Stunden sind keine Seltenheit mehr. Wurden in Italien 2009 noch rund 300 Extremwetter-Phänomene gezählt, waren es 2019 laut der European Severe Weather Database mehr als 1600.