In der Zwickmühle

Die Lokführergewerkschaft hat ein Problem: Sie streikt trotz neuem Angebot der Bahn. Und offenbart, was alle wussten: Eigentlich geht es ihr um das Tarifeinheitsgesetz. Für die Bahn die Gelegenheit, um ein gerichtliches Verbot zu ersuchen.
Das ist die nächste Eskalationsstufe im Tarifkonflikt bei der Deutschen Bahn (DB). Die Konzernführung versuchte am Donnerstag mit einem Eilantrag beim Frankfurter Arbeitsgericht, den Streik der Lokführergewerkschaft GDL zu stoppen. Damit rückt zugleich der Kern des Konflikts in den Fokus: das umstrittene Tarifeinheitsgesetz (TEG).
Das Gericht wollte noch am Abend eine Entscheidung verkünden. Sie lag bei Redaktionsschluss dieser Ausgabe noch nicht vor. Die Verhandlung sollte um 18 Uhr beginnen. Am Vormittag gab es mehrere Kundgebungen an Bahnhöfen. Auch in Leipzig: Nur wenige Passantinnen und Passanten nahmen Notiz vom Protestzug aus rund 80 Streikenden. An der Spitze Claus Weselsky, Chef der GDL. Zuvor hatte er zu den Streikenden gesprochen: „Erneut provozieren sie uns und euch, erneut weisen wir das Angebot der Deutschen Bahn zurück“, erklärte der 62-Jährige.
Die streikenden Kolleginnen und Kollegen, die ihn umringten, klatschten Beifall. „Ich fand die Rede gut“, sagte ein 59-jähriger Lokführer aus Leipzig. Nur einmal rief ein Passant lautstark dazwischen: „He! Denkt mal an die Kunden, denkt mal an die Reisenden!“ Gegenüber den Fahrgästen brachte Weselsky sein Bedauern zum Ausdruck. Den Kolleginnen und Kollegen versicherte er: „Ihr müsst keine Angst haben, dass wir die Interessen unserer Mitglieder opfern.“
Am Mittwochabend, wenige Stunden vor dem Streik-Start, hatte die Bahn ihre neue Offerte vorgelegt: Mit den Kernpunkten einer Corona-Prämie in Höhe von 400 oder 600 Euro und einer Entgelterhöhung in zwei Stufen von 3,2 Prozent bei einer Laufzeit von 36 Monaten. Die GDL verlangte bislang 28 Monate. Und bei der Corona-Prämie 600 Euro für alle GDL-Mitglieder.
Trotz des kurzfristigen Entgegenkommens der Konzernführung sprach Weselsky am Donnerstagmorgen in mehreren Interviews von einem „vergifteten Angebot“. Er sieht einen Verstoß gegen das Grundrecht der Koalitionsfreiheit. Da kommt das TEG ins Spiel. Es schreibt vor, dass nur die Tarifverträge derjenigen Gewerkschaft gelten, die in den jeweiligen Betrieben des Konzerns die Mehrheit der Mitglieder hat. Mit der GDL konkurriert die Eisenbahnergewerkschaft EVG, die nach Angaben der Bahn in 16 von rund 300 Betrieben vorne liegt.
Mit der Anwendung des TEG verwehre der Vorstand, Tarifverträge für alle Mitglieder seiner Gewerkschaft abzuschließen, damit werde die Existenz der GDL angegriffen, sagte Weselsky im Deutschlandfunk. Bis Ende vorigen Jahres wurde das Tarifeinheitsgesetz nicht angewendet. Die inzwischen eingeleitete Umsetzung dieser Regelungen gilt nun als eigentlicher Grund für die erbitterte Auseinandersetzung zwischen den Lokführer:innen und dem Management.
Die GDL sieht sich just wegen des TEG gezwungen, ihren Einfluss innerhalb des Konzerns auszuweiten. Laut Weselsky sind in den vergangenen 14 Monaten denn auch 4000 neue Mitglieder hinzugekommen. Zugleich beklagt der Gewerkschaftsführer, dass wegen der Mehrheitsklausel ein neuer Tarifvertrag für viele der Mitglieder nicht gelten würde. Damit werde seine Organisation gespalten. Die Sache ist aus der Perspektive der Lokführer:innen vertrackt: Einerseits betrachten sie das Tarifeinheitsgesetz als geltendes Recht und anderseits sprechen sie ihm seine Legitimation ab.
Auf Äußerungen von Weselsky zum TEG hat das Bahn-Management offenbar nur gewartet – als Beweis dafür, dass es bei den Arbeitskampfmaßnahmen nicht nur um Tarifliches wie Bezahlung und Laufzeiten geht. Entsprechend begründete DB-Personalvorstand Martin Seiler am Donnerstagmorgen den Eilantrag: „Das Streikrecht ist ein hohes Gut. Allerdings sind Streiks nur dann zulässig, wenn sie sich im Rahmen des geltenden Rechts bewegen. Das ist nach unserer Auffassung bei den Streiks der GDL nicht der Fall.“ Auch nach den jüngsten Äußerungen der Gewerkschaft gehe es bei diesem Arbeitskampf offenkundig mehr um rechtliche und politische Themen als um gute Arbeitsbedingungen.
Nicht nur von der DB-Führung gab es Kritik an der Lokführergewerkschaft: „Das ist das größtmögliche Chaos“, sagte Detlef Neuß, Vorsitzender des Fahrgastverbandes Pro Bahn, dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND). „Die Fahrgäste hängen in der Luft und wissen nicht, worauf sie sich in den nächsten Tagen einstellen müssen.“ Er fordert: „Die GDL sollte den Streik jetzt sofort abbrechen und verhandeln“.
Auch der Deutsche Städte- und Gemeindebund hat kein Verständnis für die Fortsetzung des Ausstands. „Nachdem die Bahn ein weiteres Angebot unterbreitet hat, erwarten wir, dass der Streik abgebrochen und eine Verhandlungslösung erzielt wird“, sagte Hauptgeschäftsführer Gerd Landsberg. Die Bahn sei zwar ein wichtiger Baustein in der Verkehrswende, doch Landsberg warnt: „Durch die ständigen und immer längeren Streiks verlieren die Kunden zunehmend das Vertrauen in dieses wichtige Verkehrsmittel.“
Die dritte Streikwelle begann für den Personenverkehr am Donnerstag kurz nach zwei Uhr. Weselsky sagte in Leipzig, 1000 Züge stünden still. Die Bahn hat bundesweit Not-Fahrpläne gestrickt. Der Ausstand soll bis nächsten Dienstag zwei Uhr fortgeführt werden. Bereits seit Mittwochnachmittag wird die Gütersparte des Staatskonzerns bestreikt. Dort kam es über Nacht binnen weniger Stunden zu einem Rückstau von mehr als 200 Zügen. „Das bedeutet auch, dass an den Grenzen zu Deutschland nicht mehr alle Güterzüge angenommen werden können“ – der GDL-Streik wirkt sich auf europäische Liefer- und Versorgungsketten aus“, erklärte die Bahn.
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