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Helfende bitten um Hilfe

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Von: Jan Sternberg, Markus Decker

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Eichenau bei München: Gemeinden brauchen mehr Geld, um Geflüchtete zu versorgen.
Eichenau bei München: Gemeinden brauchen mehr Geld, um Geflüchtete zu versorgen. © afp

Länder und Kommunen fordern den Bund zu mehr Engagement in der Versorgung Geflüchteter auf. Die Sorge wächst, dass die Stimmung kippt.

Steht Deutschland vor einem neuen Fluchtwinter? Die Nachrichten aus den Regionen klingen besorgniserregend. Mehr als doppelt so viele Geflüchtete wie in der Hochphase der Verteilung von Asylsuchenden auf die Kommunen 2017 werde man dieses Jahr unterbringen müssen, klagen etwa die Oberbürgermeister:innen des Rems-Murr-Kreises in Baden-Württemberg in einem Brandbrief: „Wir Kommunen stehen buchstäblich mit dem Rücken zur Wand.“

Die Region in Schwaben ist eine der wirtschaftlich solidesten der Republik. Doch selbst hier scheint im Streit über die Kosten der Flüchtlingsunterbringung die Schmerzgrenze erreicht. Auf dem Bund-Länder-Gipfel vergangene Woche wurde nur beschlossen, „die vereinbarten Gespräche zeitnah zum Abschluss“ zu bringen. Zeitnah? Das müsste am besten gestern gewesen sein, drängt Gabriele Zull.

„In den Städten im Rems-Murr-Kreis sind wir jetzt wieder dabei, Hallen zu belegen, Containerdörfer aufzubauen und Zeltstädte einzurichten“, klagt Zull, parteilose Oberbürgermeisterin von Fellbach bei Stuttgart. Sie hat den Brandbrief mit fünf Kollegen aufgesetzt. „Wir brauchen jetzt Klarheit, was in den kommenden Monaten mit der Flüchtlingszuwanderung passiert und wer für die Kosten aufkommt. Wir stellen uns seit Jahren dieser Aufgabe, nehmen unsere Verantwortung sehr ernst und wollen den Menschen auch gerecht werden. Wenn die Zahlen weiter so hoch bleiben, kommen wir an unsere Grenzen.“

Als nach dem russischen Überfall auf die Ukraine Hunderttausende auf der Flucht vor dem Krieg nach Deutschland kamen, wurden sie von einer beispiellosen Welle der Solidarität empfangen. Privatleute spendeten Kleidung und Powerbanks, boten Wohnraum und Dolmetscherdienste, arbeiteten freiwillig in der Flüchtlingshilfe mit.

Wie Nancy und Ralf aus Berlin. Seit März stehen sie mit gelben Westen, die sie als „Volunteers“ der Stadtmission ausweisen, im großen weißen Willkommenszelt vor dem Berliner Hauptbahnhof. Hier enden die Eurocitys aus Polen, mit denen viele Ukraine-Flüchtlinge ankamen. Im Zelt auf dem Bahnhofsvorplatz konnten sie nach der tagelangen Fahrt durchatmen, bekamen Essen, Trinken und Tipps, wie es weiterging.

Zahlen ukrainischer Geflüchteter.
Zahlen ukrainischer Geflüchteter. © FR-Grafik

Am Anfang strömten mehr als 7000 Menschen täglich ins Zelt, im Sommer waren es noch mehrere Hundert täglich. 290 000 Menschen insgesamt kamen hier an. Die „Welcome Hall“, so der internationale Name des Zeltes, war zum Treffpunkt der ukrainischen Geflüchteten in der Stadt geworden. „Irgendwann kannten wir viele Gesichter, man grüßte sich, das war eine schöne Stimmung“, sagt die 45-jährige Nancy, die aus Ägypten stammt und seit acht Jahren in Berlin lebt. „Für die Ukrainer war das ein Ort, an dem sie ihre Landsleute trafen.“

Und einige reisten von hier wieder zurück, um Hilfsgüter in die Ukraine zu bringen, nach ihrem Haus oder der Wohnung zu sehen, ihre Angehörigen zu treffen. Dass CDU-Chef Friedrich Merz aus diesen Reisen zeitweise den Vorwurf des „Sozialtourismus“ ableitete, stößt bei den Helfenden in Berlin auf Kopfschütteln. „Merz begreift nicht, dass die Menschen Angehörige in der Ukraine haben und Sehnsucht nach ihnen“, sagt der 58-jährige Berliner Ralf. Einige kommen mit den 21 Tagen Abwesenheit, die ihnen laut Hartz IV zustehen, nicht aus. „Vielleicht sollte man die Anzahl der Reisen beschränken, auf zwei bis drei Besuche pro Jahr“, schlägt Ralf als Lösung vor.

Den Vorwurf des „Sozialtourismus“ nahm Merz zurück, doch er legte nach: Die hohen Sozialleistungen in Deutschland stellten einen „Pull-Faktor“ dar, der Migranten erst anziehe. Was Friedrich Merz nicht sagt: Bei vielen Menschen aus Afghanistan, Syrien, Pakistan und Irak mag es aber auch schlicht die Furcht vor einem kalten Winter in türkischen und griechischen Flüchtlingslagern sein, die sie weiter treibt.

Zuletzt hatte Reinhard Sager, Präsident des Deutschen Landkreistags, Unterstützung vom Bund bei der Unterbringung Geflüchteter eingefordert. „Wir können die Unterbringung nicht mehr leisten“, sagte er dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. „Es muss mehr Begrenzung sowie Unterstützung durch Bundes- und Landesimmobilien geben.“ Da die Geflüchteten aus der Ukraine aus dem Asylbewerberleistungsgesetz herausgefallen sind und wie Hartz-IV-Empfänger eingestuft werden, müssen die Kommunen für sie ein Drittel der Wohnkosten zahlen.

Die Union fordert indes, dem Zuzug aus anderen Erdteilen einen Riegel vorzuschieben. Der Bund müsse „sich der realen Flüchtlingssituation mit ihren immensen Herausforderungen endlich bewusst werden“, sagte Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU), zurzeit auch Vorsitzender der Innenministerkonferenz. „In ganz Deutschland ist die Unterbringung der vielen Asylbewerber wie auch der afghanischen Ortskräfte und anderer Gruppen zunehmend schwierig.“ Der Bund dürfe in dieser Situation „nicht noch mehr Flüchtlingsprogramme auflegen“ und müsse Länder und Kommunen finanziell entlasten.

Das dürfte vornehmlich auf die sozialdemokratische Bundesinnenministerin Nancy Faeser und Außenministerin Annalena Baerbock von den Grünen zielen, die erst kürzlich erklärt hatten, die Menschen in Afghanistan nicht im Stich lassen zu wollen. Auch Äußerungen der stellvertretenden Vorsitzenden der Unionsfraktion, Andrea Lindholz, deuten auf einen härter werdenden Kurs von CDU und CSU hin: „Frau Faeser steuert unser Asylsystem ins Chaos. Viele Länder und Kommunen sind am Limit. Sie müssen Hunderttausende schutzbedürftige Ukrainer unterbringen, und die Zahl der Asylbewerber steigt massiv an.“

Nach Angaben des Bundesinnenministeriums waren am Stichtag 10. September 2022 insgesamt 1 015 368 Menschen im Ausländerzentralregister erfasst, die im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine eingereist sind. Davon seien rund 983 000 ukrainische Bürger:innen, von denen wiederum eine erhebliche Zahl in andere EU-Staaten weitergereist sein könne oder zurückgereist ist (siehe Grafik). Bis Ende September stellten rund 134 908 Menschen aus anderen Staaten Erstanträge auf Asyl, allen voran aus Syrien, Afghanistan und dem Irak.

Die Menschenrechtsorganisation Pro Asyl hält das Problem für hausgemacht. „Anstatt schutzsuchenden Menschen möglichst früh zu erlauben und zu ermöglichen, selbstständig zu wohnen und Fuß zu fassen, zwingt die Politik sie dazu, bis zu anderthalb Jahren in großen Sammelunterkünften zu leben“, heißt es in einem Positionspapier. Das verhindere oft ein selbstbestimmtes Leben und blockiere Plätze für neu Ankommende.

Pro Asyl schlägt vor, die Wohnpflicht in Erstaufnahmeeinrichtungen aufzuheben. Das sei laut Asylgesetz zur Gewährleistung der Unterbringung möglich. „Im Anschluss muss die Wohnpflicht in den Erstaufnahmeeinrichtungen endlich wieder auf das Nötigste reduziert werden und sollte nicht länger als maximal drei Monate gelten.“

In Sachsen planen rechtsextreme Gruppen bereits Demonstrationen vor den Erstaufnahmeeinrichtungen. In Schwaben sagt Oberbürgermeisterin Zull: „Viele Menschen sind noch solidarisch und helfen weiterhin an allen Ecken und Enden, aber wir spüren, dass es nicht einfacher wird. Die derzeitigen Herausforderungen – wie beispielsweise die stark angestiegenen Preise und die Energiekrise – werden alle belasten und fordern.“

Im aktuellen ZDF-Politbarometer bejahten 74 Prozent die Frage „Sollen wir die Ukraine trotz steigender Energiepreise weiter unterstützen?“ Das waren sogar vier Prozent mehr als im Juli. Die Solidarität scheint stabil – aber gilt das auch für den Umgang mit den Ukrainerinnen und Ukrainern hier?

Gabrielle Zull aus Fellbach fordert mehr Informationen vom Bund, um planen zu können.
Gabrielle Zull aus Fellbach fordert mehr Informationen vom Bund, um planen zu können. © Privat

„Die Angst vor Preiserhöhungen und einer Energiekrise wird von russischer Rhetorik angeheizt, das kennen wir schon aus der Ukraine“, sagt die Künstlerin Mariana Yaremchyshyna in Greifswald. Die 27-Jährige kam vor fünf Jahren aus Kiew nach Deutschland. Vor kurzem stellte sie sich mit zwei Mitstreiterinnen mit Pappschildern und verklebten Mündern auf eine von Rechtsextremen beworbene pro-russische Demo in Lubmin an der Ostsee. „Blutiges Gas“ und „Russland ist ein Terrorstaat“ stand auf Englisch auf ihren Schildern. „Intervention“ nennt die Künstlerin das.

Den Zulauf für derartige pro-russische Kundgebungen erklären sich die jungen Ukrainerinnen mit dem Einfluss der russischen Propaganda in Deutschland. Diese würden auch versuchen, mit dem „Sozialtourismus“-Vorwurf eine Neiddebatte anzufachen. Doch bei den vielen Menschen, die Geflüchteten helfen, würde das nicht verfangen.

In Berlin haben Nancy und Ralf vor wenigen Tagen das große Zelt am Hauptbahnhof abgeschlossen. Der Vertrag mit dem Land ist ausgelaufen, der Anlaufpunkt für Abertausende wird abgebaut. Ob das mit Blick auf den kommenden Winter eine gute Entscheidung ist?

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