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Karibik: Der Staat Haiti zerfällt – Anschlag auf den Premierminister

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Von: Klaus Ehringfeld

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Auf einer Straße in Port-au-Prince stehen Autoreifen in Flammen. Dichte Rauchschwaden breiten sich aus, es sind einige Menschen zu sehen, die vor dem Rauch davonlaufen.
Unruhen, wie hier in Port-au-Prince im Dezember, sind in Haiti an der Tagesordnung. © Richard Pierrin/afp

Im Staat Haiti in der Karibik feuern Unbekannte auf den Premier, ein Gangsterboss fordert dessen Rücktritt. Der ärmste Staat der westlichen Hemisphäre zerfällt.

Gonaïves – In Haiti beginnt das neue Jahr so, wie das alte aufgehört hatte: mit Gewalt, Chaos und einer instabilen Regierung. Das musste gleich zu Beginn von 2022 der aktuelle Premierminister Ariel Henry spüren, als er am vergangenen 1. Januar bei einem Besuch einer Kirche in der Stadt Gonaïves von Unbekannten beschossen wurde.

Videomitschnitte zeigen, wie plötzlich mehrere Salven von Schüssen in dem Moment auf den Tross des Regierungschefs abgefeuert werden, in dem er zu Neujahr die Kirche verlässt. Henry blieb unverletzt, allerdings starb mindestens ein Mensch, zwei weitere wurden bei der Gewalttat verletzt.

Karibik-Staat Haiti: Premierminister von Gangsterboss bedroht

Der Anschlag, den Henry anschließend selbst über seinen Twitter-Account kommunizierte, wurde während seiner Teilnahme an Feierlichkeiten zum haitianischen Unabhängigkeitstag in Gonaïves verübt. Die Stadt, 150 Kilometer nördlich der Hauptstadt Port-au-Prince, ist für ihre Gewalt und für ihre kritische Haltung gegen die Zentralregierung bekannt. Hier haben viele der bewaffneten Banden ihren Ursprung, die den Karibikstaat seit langem terrorisieren.

Mitglieder krimineller Banden sowie Vertreter der Zivilgesellschaft hatten den Premier vor einem Besuch der Stadt gewarnt. Vor dem Anschlag sei er zudem konkret von einem Gangsterboss mit Gewalt bedroht worden.

Anschlag auf Premier in der Karibik – In Haiti herrschen Chaos und Armut

„Mir war klar, dass ich ein Risiko eingehe bei dem Besuch der Stadt“, sagte Henry der französischen Nachrichtenagentur AFP. Er könne jedoch nicht zulassen, dass „Banditen den Staat erpressen“.

Haiti, der ärmste Staat der westlichen Hemisphäre, hat sich im vergangenen Jahr zu einem fast unregierbaren Krisenstaat entwickelt. Anfang Juli wurde der Staatschef Jovenel Moïse von einem Söldnerkommando ermordet. Danach übernahm der Arzt Henry die Amtsgeschäfte. Für Ende des Jahres geplante Präsidentenwahlen wurden wegen des Chaos’ nach dem Attentat und eines Erdbebens Mitte August verschoben.

Ariel Henry, 72, amtiert seit Sommer 2021 als Interimspremier des Karibikstaats Haiti.
Ariel Henry, 72, amtiert seit Sommer 2021 als Interimspremier des Karibikstaats Haiti. © Valerie Baeriswyl /afp

Bis heute ist der Mord an Moïse unaufgeklärt. Laut einem Bericht der New York Times von Mitte Dezember wurde er getötet, weil er versucht haben soll, eine Liste mit Namen aus der haitianischen Machtelite an die US-Drogenfahndung zu übermitteln. Die Genannten sollen im Zusammenhang mit dem Rauschgiftschmuggel in dem Inselstaat stehen.

Karibik: In Haiti steigt Kriminalität weiter an

Haiti leidet seit Jahren unter Gewalt und einem Staat, der die zentralen Probleme des Landes wie die Armut und die fehlenden Perspektiven für die Menschen, nicht in den Griff bekommt. Nach der Ermordung von Moïse stiegen Gewalt und Kriminalität nochmal stark an. Erst am vergangenen Freitag starben elf Menschen bei einem versuchten Gefängnisausbruch, zehn Häftlinge und ein Polizist.

Mehrere Banden wie die „G9 an fanmi“, „400 Mawoso“ und „Izo 5 Segonn“ sind zu einem Staat im Staate geworden, die den Handel, den Verkehr, die Kreditvergabe und die Justiz kontrollieren, sich durch Entführungen finanzieren und zuletzt vor allem mit der Rationierung des dringend benötigten Benzins auf sich aufmerksam machten. Die Knappheit an Treibstoff führte bereits dazu, dass Krankenhäuser vorübergehend schließen mussten und Unternehmen ihre Produktion einstellten.

Anschlag auf Premier in der Karibik – In Haiti wurden 2021 fast tausend Menschen entführt

Jimmy Chérizier, auch bekannt unter dem Pseudonym „Babekyou“ ist Chef der „G9 an fanmi“ und als solcher vermutlich der derzeit mächtigste Mann des Karibikstaates. Er fordert den Rücktritt von Premierminister Henry als Gegenleistung für die Aufhebung des Würgegriffs über das Land. Doch Henry lehnt diese Forderung ab und beharrt darauf, bis zu den für Mitte des Jahres geplanten Wahlen an der Macht zu bleiben. Gerüchte besagen, „Babekyou“ habe im Sold des getöteten Präsidenten Moïse gestanden und nach seinem Tod selbst die Macht über Haiti übernommen.

Von Januar bis Mitte Dezember wurden nach Angaben des „Zentrums für Analyse und Recherche über Menschenrechte“ (CARDH) 949 Menschen in Haiti entführt, darunter 55 Ausländer:innen. Unter den Opfern waren auch 17 US-Missionare und Missionarinnen, die im Oktober verschleppt und erst vergangenen Monat freigelassen wurden. (Klaus Ehringfeld)

Auf der Suche nach Asyl in den USA und Mexiko

Mexiko hat im abgelaufenen Jahr die mit Abstand höchste Zahl an Asylanträgen in seiner Geschichte registriert. Von Januar bis Dezember 2021 wurden in dem lateinamerikanischen Land 131.448 Anträge gestellt, wie die Flüchtlingsbehörde Comar am Montag mitteilte. Die bisherige Rekordmarke von 2019 - damals waren es gut 70.000 Anträge gewesen - wurde damit fast verdoppelt. Zum häufigsten Herkunftsland mit fast 52.000 Asylsuchenden avancierte Haiti, gefolgt von Honduras.

Viele Antragsteller:innen hatten vermutlich zunächst versucht, über Mexiko in das Nachbarland USA zu gelangen. Die Zahl der Menschen, die beim Versuch einer irregulären Einreise an der US-Südgrenze aufgegriffen wurden, stieg im vergangenen Jahr stark an. Ein Grund war die Hoffnung nach dem Amtsantritt des Präsidenten Joe Biden auf eine liberalere US-Einwanderungspolitik als unter dessen Vorgänger Donald Trump.

Die USA behielten allerdings unter Biden die weitgehende Abriegelung der Landgrenze bei - begründet wird dies mit der Gefahr einer Einschleppung des Coronavirus. Zudem musste die Regierung auf gerichtliche Anordnung eine weitere Regelung aus Trump-Zeiten wiedereinführen: Demnach müssen Asylsuchende, die über die Südgrenze in die USA einreisen wollen, für die Dauer ihrer Verfahren in Mexiko bleiben.

Zu einem großen Andrang von haitianischen Flüchtlingen kam es im September an der US-mexikanischen Grenze. Tausende von ihnen wurden abgeschoben; andere gingen nach Mexiko, um nicht dasselbe Schicksal zu erleiden. Weil die mexikanischen Sicherheitskräfte in Absprache mit den USA Flüchtlinge auf dem Weg aus Mittelamerika Richtung Norden aufhalten, stecken zudem viele Auswanderer:innen im Süden Mexikos fest. Mit dem Asylantrag in Mexiko wollen manche Migrant:innen erreichen, dass sie sich in dem Land frei bewegen und arbeiten können - um die Weiterreise in die USA gegebenenfalls später zu versuchen. (dpa)

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