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Geflüchtete „nackt zurückgeschickt“

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Von: Gerd Höhler

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Wo ist der Unterschied zu einem Gefängnis? Camp für Geflüchtete auf der Insel Samos. dpa
Wo ist der Unterschied zu einem Gefängnis? Camp für Geflüchtete auf der Insel Samos. dpa © dpa

Die UN-Flüchtlingsagentur ermittelt gegen Griechenland wegen Misshandlungen und Menschenrechtsverletzungen

Griechenland gerät wegen des Umgangs mit Geflüchteten immer stärker in die Kritik. Schutzsuchende berichten von Misshandlungen und völkerrechtswidrigen Pushbacks, Hilfsorganisationen kritisieren die schlechte Versorgung in den Lagern. Die Regierung dementiert, aber jetzt ermittelt auch die UN-Flüchtlingsagentur.

Eine Serie von Todesfällen an der türkisch-griechischen Grenze hat einen diplomatischen Schlagabtausch zwischen Ankara und Athen ausgelöst. Nach Angaben des türkischen Innenministers Süleyman Soylu wurden bei der Ortschaft Pasaköy in der vergangenen Woche 19 Menschen erfroren aufgefunden. Das Dorf liegt knapp zehn Kilometer landeinwärts vor der Grenze zu Griechenland. Weitere Geflüchtete, die angeblich zu derselben Gruppe gehörten, konnten lebend geborgen werden. Der türkische Innenminister erhob auf Twitter schwere Vorwürfe: Griechische Grenzpolizisten hätten die Menschen jenseits der Grenze aufgegriffen, ihnen Kleidung und Schuhe abgenommen und sie in der eisigen Kälte zurück in die Türkei geschickt. Der griechische Migrationsminister Notis Mitarakis sprach von einer „Tragödie“, wies die türkische Darstellung aber zurück. Sie sei „völliger Unsinn“. Die Menschen hätten niemals die Grenze zu Griechenland überquert. Der Türkei machte Mitarakis Vorwürfe, weil sie solche „gefährlichen Reisen“ nicht unterbinde.

Aussage steht gegen Aussage. Am Wochenende meldeten sich angebliche Beteiligte zu Wort. Eine türkische Nachrichtenagentur veröffentlichte Interviews mit Migrant:innen, die nach eigener Aussage zu der betreffenden Gruppe gehörten. Sie hätten am 31. Januar die Grenze zu Griechenland überquert, wurden dort von Grenzpolizist:innen aufgegriffen und in ein Lager gebracht. „Sie haben uns drei Tage lang kein Essen und kein Wasser gegeben“, berichtet laut der Agentur Riyaz A. aus Bangladesch. Einen anderen Mann, den Syrer Mustafa Ahmed, zitiert die Agentur: „Sie haben uns Kleidung und Schuhe ausgezogen, die Mobiltelefone abgenommen und uns nackt über die Grenze zurückgeschickt.“ Eine Sprecherin der UN-Flüchtlingsagentur UNHCR kündigte am Wochenende an, man werde den Vorgang untersuchen.

FAESER FÜR FRONTEX

Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) hat sich für eine Stärkung der europäischen Grenzschutzagentur Frontex ausgesprochen. Ein Sprecher ihres Ministeriums sagte, Faeser sei „der Überzeugung, dass Frontex für den gemeinsamen Schutz der EU-Außengrenzen und zur Unterstützung im Bereich der Rückkehr das zentrale operative Element ist“. Frontex müsse daher aus Sicht der Ministerin „weiter gestärkt werden“.

An den Frontex-Einsätzen beteiligen sich aktuell 151 Polizisten und Mitarbeiter des Zolls aus Deutschland, die meisten stellt die Bundespolizei. Wie aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine schriftliche Frage des Abgeordneten Alexander Ulrich (Linke) weiter hervorgeht, sind die meisten derzeit in Frontex-Operationen in Griechenland, Rumänien, Albanien und Serbien eingesetzt. Ihren Einsatz in Ungarn hatte Frontex nach einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs zum ungarischen Asylsystem ausgesetzt – das Gericht hatte Ende 2020 weite Teile des ungarischen Asylsystems für rechtswidrig erklärt. dpa

Die türkische Regierung und internationale Hilfsorganisationen werfen Griechenland seit langem vor, dass Küstenwache und Grenzpolizei in der Ägäis und an der Landgrenze zur Türkei Menschen gewaltsam zurückdrängten. Diese sogenannten Pushbacks sind nach der europäischen Menschenrechtskonvention verboten. Nach ihren Bestimmungen müssen alle Schutzsuchenden die Möglichkeit erhalten, einen Asylantrag zu stellen.

Nach Angaben der Hilfsorganisation Aegean Boat Report gab es 2021 in der Ägäis 629 solcher Pushbacks mit rund 16 000 Betroffenen. Die Athener Regierung bestreitet die Vorwürfe. Es gebe weder Misshandlungen noch illegale Zurückweisungen. Sie bezeichnet ihre Migrationspolitik als „hart, aber gerecht“. Die Berichte über Pushbacks und Misshandlungen sind allerdings längst zu zahlreich und zu glaubwürdig, als dass man sie als Erfindungen abtun könnte. Viele Fälle sind gut dokumentiert, wie das Schicksal der iranischen Asylsuchenden Parvin A. Sie beschuldigt griechische Grenzbeamte, sie sechs Mal in die Türkei zurückgeschickt zu haben. „Ich wurde mit Handschellen gefesselt, man hat auf mich geschossen, mich mit Tränengas malträtiert, gefoltert und fast umgebracht“, sagte die Frau in einem Video, das vom Europäischen Zentrum für Verfassungs- und Menschenrechte in Berlin veröffentlicht wurde. Einen Asylantrag durfte die Iranerin nicht stellen. Parvin A., die ihre Darstellung mit Videos und Standortdaten ihres Handys untermauern kann, hat jetzt eine Beschwerde vor dem UN-Menschenrechtsausschuss eingereicht. Damit dürfte die griechische Regierung in Erklärungsnot kommen.

Auf jene, die nicht in die Türkei zurückgeschickt werden, wartet in Griechenland nicht unbedingt ein besseres Schicksal. Elendscamps wie Moria auf Lesbos und Vathi auf Samos gibt es zwar nicht mehr. Aber die neuen „geschlossenen und kontrollierten“ Erstaufnahmelager, die Griechenland jetzt mit EU-Geld auf einigen Inseln baut, gleichen mit ihren Stahlgitterzäunen, Stacheldrahtverhauen und Wachtürmen eher Gefängnissen. Menschenrechtsorganisationen berichten von einer „Hungerkrise“ in vielen Lagern, wo rund 16 500 Asylsuchende auf die Bearbeitung ihrer Anträge warten müssen. Der zuständige Beamte des Migrationsministeriums bezeichnete die Vorwürfe als „Unsinn“.

Die konservative Regierung setzt vor allem auf Abschreckung. Griechenland rüstet nun auch die Sperranlagen an der 200 Kilometer langen Landgrenze zur Türkei auf. Die bestehenden drei Meter hohen Stahlgitterzäune in einer Länge von 39 Kilometern werden jetzt auf weitere 35 Kilometer ausgebaut. Die Kosten trägt Griechenland, nachdem die EU-Kommission beschlossen hat, sich nicht an der Finanzierung solcher Sperranlagen zu beteiligen.

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