Gefährdet in Moskau, fremd in Berlin

Am Tag ihrer Hochzeit überfällt Russland die Ukraine. Wie viele andere russische Oppositionelle fliehen sie nach Deutschland – und denken immer öfter, sie müssten zurück.
Am Morgen ihrer Hochzeit begann der Krieg. Polina Oleinikova und Arshak Makichyan starrten schockiert auf die Nachrichten. Die 19-Jährige brach in Tränen aus. Der Kremlchef, gegen dessen autoritäre Politik sie seit langem auf die Straße gingen, hatte es wirklich gewagt. Wladimir Putins Truppen marschierten in die Ukraine ein.
Kurz überlegten die beiden, alles abzusagen. Dann entschieden sie, doch zum Standesamt zu gehen. Schließlich heirateten sie nicht nur aus Liebe, sondern auch wegen der Polizei. Eheleute müssen auch in Russland nicht gegeneinander aussagen. Olei-nikova und Makichyan waren in den Wochen vor der Invasion mehrfach verhaftet worden. Sie kannten die Verhöre, die erfundenen Vorwürfe, die Tricks. Sie kannten die Einsamkeit und die Schreie aus den Nachbarzellen.
Seit 2019 war Makichyan, ausgebildeter Konzertviolinist, das Gesicht von „Fridays for Future“ in Russland. Freitag für Freitag stand er auf der Straße. Oft alleine mit einem Schild, weil Ein-Personen-Demonstrationen geduldet waren. Manchmal aber auch mit ein paar Dutzend Mitstreiter:innen. Von Anfang an ging es ihm nicht nur ums Klima, sondern auch um Putin. „In Russland kannst du nicht den Klimawandel bekämpfen, ohne das Regime zu bekämpfen“, sagt er. 2021 lernt er Oleinikova bei einem Protest kennen.
Aus den Hochzeitsfotos machen sie ein Protest-Happening: Im blauen Kleid blickt Oleinikova ernst in die Kamera, sie hält einen Strauß gelber Rosen. Eine Braut in den Farben der überfallenen Ukraine. Makichyan umarmt sie, auf dem Rücken seines weißen Hemdes steht in blutroten Lettern „Fuck the war“. Sie veröffentlichen die Bilder auf Instagram, dann gehen sie protestieren – am nächsten Tag werden sie erneut verhaftet.
Im März haben Oleinikova und Makichyan Russland verlassen. Drei Tage waren sie unterwegs, von Moskau aus mit dem Bus, an der Grenze zwischen Belarus und Polen wurden sie zunächst trotz gültiger Visa zurückgewiesen.
Immer mehr russische Dissident:innen verlassen inzwischen Putins Reich, viele zieht es nach Berlin. Wie viele genau, ist schwer zu ermitteln. Oleinikova und Makichyan kamen mit Touristenvisa, Asyl beantragen wollen sie nicht, weil ihnen dann die Rückkehr versperrt wäre. Nur 134 Asylanträge, davon 71 Erst- und 63 Folgeanträge, wurden laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge im April gestellt.
Die Bundesregierung arbeitet an einem Aufnahmeprogramm für geflohene Russinnen und Russen. Die Pläne würden konkreter, ist aus Regierungskreisen zu hören. „Wir können sie gut gebrauchen in Deutschland“, sagte Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) vergangene Woche nach der Kabinettsklausur in Meseberg. Sein Parteifreund, der deutsche Europaabgeordnete Sergey Lagodinsky, kritisiert, dass es noch keinen flexiblen Aufenthaltsstatus für russische Oppositionelle im deutschen Exil gibt. „Russinnen und Russen, die nach Deutschland wollen, bekommen nur ein Visum für drei Monate. Andere Länder der Europäischen Union sind da viel weiter“, sagt Lagodinsky. „Die Tschechische Republik etwa bietet Journalisten aus Russland eine mehrjährige Perspektive. Die Litauer machen Ähnliches, die Polen auch.“
Das Bundesinnenministerium müsse sich diesen Vorbildern anschließen, sagt Lagodinsky. „Es handelt sich ja um Menschen, die auch von hier aus zum Wohle der Demokratie und gegen den Krieg arbeiten und aktiv sein wollen. Man sollte sie nicht in Verfahren zwingen, in denen sie etwa nicht arbeiten oder ihre Region nicht verlassen dürfen. Sie brauchen einen flexiblen Status.“
Berlin habe die Chance, „ein Zentrum der russischen Opposition zu werden“, sagte er. „Es gibt russische Medien, die sich hier ansiedeln wollen. Aber dazu gehört auch, dass diese Leute einen legalen Status und politische Unterstützung bekommen.“
Die Moskauer Politikwissenschaftlerin Ekaterina Schulmann lebt und arbeitet seit vier Wochen als Stipendiatin der Robert-Bosch-Stiftung in Berlin. Sie fordert: „Man sollte das Wissen nutzen, dass diese Menschen aus Russland mitbringen.“ Unter ihnen seien „Soziologen, Politikwissenschaftler, Wirtschaftsanalytiker, Menschen, die sich seit Jahrzehnten mit Russland beschäftigen und nun in ihrem Heimatland nicht mehr als Fachleute arbeiten können. Dieses Wissen könnte auch in Deutschland nützlich sein, um besser zu verstehen, was in Russland geschieht.“ Die kommenden Jahre würden „eine harte Zeit für Russland und uns alle werden. Umso wichtiger ist es, dass es Zentren gibt, in denen sich Expertinnen und Experten auf die Zeit nach Putin vorbereiten“, sagt sie.
In Russland genießt die 43-jährige Schulmann eine Art Kultstatus, ihr Youtube-Kanal hat eine knappe Million Abonnent:innen, auf Telegram eine halbe Million. Das Stipendium der Robert-Bosch-Stiftung nahm sie an, nachdem sie zur „ausländischen Agentin“ erklärt worden war. Mit dem Auto fuhr sie mit ihrer Familie über Litauen nach Berlin. Ob sie lieber in Moskau wäre? „Nichts lieber als das. Ich denke an nichts anderes“, sagt sie.
Das Ehepaar Polina Oleinikova und Arshak Makichyan sind in Berlin bei Bekannten aus dem Freundeskreis untergekommen. Ihre Bankkarten funktionieren nicht. Vielleicht wollen sie schon bald wieder nach Moskau, sagen sie beide. Berlin fühle sich falsch an. Gleich nach ihrer Ankunft waren die beiden beim Klimastreik am Brandenburger Tor. Die erste Demonstration in Freiheit, ohne Angst, verhaftet zu werden.
Doch zugleich sei da das Gefühl, fehl am Platz zu sein. Makichyan spricht irritiert von „Spaß-Aktivisten, die für eine bessere Welt hüpfen“. Auf Twitter schreibt er: „In Berlin ist es ungefährlich, ,Fuck the war‘ zu sagen, du kannst es an jede Wand sprühen, und gleichzeitig liefert die EU Waffen nach Russland und finanziert den Krieg, indem sie fossile Brennstoffe kaufen. Es ist verrückt.“
Sie dachten, in Berlin würde man sie verstehen, ihnen vielleicht zuhören, vielleicht bekämen sie sogar Termine bei Olaf Scholz und Annalena Baerbock. „Deutschland hat schließlich seine Erfahrungen mit Diktaturen gemacht“, sagt Makichyan. Sein Ton wird vorwurfsvoll. „Aber die russische Zivilgesellschaft habt ihr alleine gelassen. Ihr habt Milliarden für Öl und Gas ausgegeben. Wohin flossen die? Unter anderem ins Überwachungssystem.“
Blick zurück: Am Tag nach dem russischen Überfall auf die Ukraine, dem Tag nach ihrer Hochzeit, bereitet sich Oleinikova für eine Protestaktion vor. Das Gesicht voller Kunstblut und in eine Militäruniform gekleidet verlässt sie mit Makichyan und zwei Medienschaffenden das Haus. Kaum sind sie aus der Tür, werden sie schon von der Polizei umringt. Einige Stunden später sind sie wieder auf freiem Fuß.
Sie demonstrieren erneut, am 27. Februar, dem Jahrestag der Ermordung von Oppositionspolitiker Boris Nemzow. Immer schwieriger wird es, überhaupt zum Protest zu kommen: „Sie fischen dich schon vorher raus“, berichtet Oleinikova, „sie haben Gesichtserkennungssoftware in der U-Bahn, sie filzen deine Sachen, kontrollieren dein Handy auf oppositionelle Websites. Sie ersticken den Protest im Keim.“
Die Angst durchsetzt alles. „Ich hatte das Gefühl, ich ersticke“, sagt Oleinikova. „Ich konnte nicht mehr klar denken. Ich musste raus aus dem Land.“ Makichyan will nicht wegrennen. „Ich war wütend, ich war müde, ich wollte nicht mehr. Ich dachte sogar: Im Gefängnis hast du Ruhe vor all dem.“ Sie setzte sich durch.
In Berlin machten sie nahtlos weiter. Neben „Fridays for Future“-Frontfrau Luisa Neubauer standen sie vergangenen Freitag vor der SPD-Parteizentrale. Sie fahren nach Schwerin zu einer Kundgebung gegen die Politik von Ministerpräsidentin Manuela Schwesig (SPD), die jahrelang viel für die Interessen des russischen Staatskonzerns Gazprom und die Pipeline Nord Stream 2 tat. Makichyan will ein auf Putin gemünztes Schild mitbringen: „Wir haben ihn nicht gewählt. Ihr habt gewählt, ihn zu finanzieren“ steht auf Englisch darauf. Doch immer öfter denken sie, sie müssten eigentlich zurück.
Auch Ekaterina Schulmann glaubt, dass es selbst in der aktuellen Lage Dissident:innen in Russland braucht. „Das Wissen, dass es solche Menschen gibt, gibt jenen Hoffnung, die schweigen, und jenen, die still darauf warten, dass vielleicht bessere Zeiten kommen.“ Und sie selbst? „Ich habe jetzt ein Stipendium in Deutschland für ein Jahr. Mehr kann ich momentan nicht sagen.“
„Wenn du ein furchtbares Regime bekämpfst“, sagt Arshak Makichyan zum Abschied, „dann wird es ein Teil von dir. Du wirst es nicht mehr los.“