Dirk Oschmann: „Der Osten – eine westdeutsche Erfindung“ – „Alle waren bei der Stasi, alle sprechen Sächsisch, alle sind Nazis“

Dirk Oschmann schreibt in einem flammenden Buch gegen die „westdeutsche Erfindung“ des Ostens an und warnt vor den verheerenden Folgen jahrzehntelanger Missachtung.
Der Germanist Dirk Oschmann (55) ist verheiratet hat zwei Kinder und wäre bei einer Kategorisierung etwa der urbanen akademischen Mittelschicht zuzuordnen, die zentrumsnah im sanierten Altbau wohnt, gern verreist, sich gesund ernährt, schlank und fit und auch ansonsten zufrieden ist. Oschmann stammt aus Gotha in Thüringen und erhielt 2011 als erster Ostdeutscher im Osten an der Universität Leipzig eine reguläre Professur für Neuere deutsche Literatur.
Er ist also einer der wenigen Ostler, die „es geschafft“ haben. Und dennoch geht er in die Offensive, weil er glaubt, dass die Demokratie in Gefahr ist, wenn alles zwischen Ost und West so bleibt, wie es jetzt ist. 1990 habe der Westen gedacht, er müsse sich nicht ändern und könne einfach Westen bleiben, während zugleich der Osten natürlich Westen werden sollte, obwohl im selben Moment alles dafür getan wurde, ihn erst eigentlich zum „Osten“ zu machen, erklärt Oschmann.
Versuche, den Riss durchs Land in Buchform aufzuarbeiten, hat es in den vergangenen Jahren einige gegeben. Erwähnt seien nur „Wer wir sind – Die Erfahrung ostdeutsch zu sein“ von Jana Hensel und Wolfgang Engler 2018 oder ein Jahr später die Arbeit des Soziologen Steffen Mau mit dem Titel „Lütten Klein – Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft“. Aber kaum eines der zuletzt erschienenen Sachbücher fällt so brutal mit der Tür ins Haus wie Oschmann mit seinem soeben bei Ullstein erschienenen Titel „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“.
In seinem „Lagebericht“ beschreibt der Autor „eine dreißigjährige Geschichte individueller und kollektiver Diffamierung, Diskreditierung, Verhöhnung und eiskalter Ausbootung“ des Ostens durch den Westen. Oschmann will nicht wie andere den Osten erklären, sondern er erklärt den Westen, „der sich anmaßt, den Osten identitätspolitisch zu interpretieren und dabei faktisch zu isolieren“.
Auf 3639 Führungspositionen in oberen Bundesbehörden beträgt der Anteil an Ostdeutschen gerade einmal 13,5 Prozent, ohne Berlin sind es nur 7,4 Prozent. In der Justiz sind lediglich 5,1 Prozent der Richterinnen und Richter gebürtige Ostdeutsche. Über alle Führungsebenen hinweg sind Ostdeutsche mehr als 32 Jahre nach der Einheit nicht angemessen vertreten, musste der Ostbeauftragte der Bundesregierung, Carsten Schneider, gerade Ende Januar erst wieder konstatieren.
Auch Oschmann zählt Fakten auf, etwa dass der durchschnittliche Lohn im Osten immer noch 22 Prozent unter dem des Westens liegt oder dass in Bayern und Baden-Württemberg pro Kopf etwa 175 000 Euro vererbt werden und in Mecklenburg-Vorpommern oder Brandenburg 23 000 Euro.
Die von der Föderalismuskommission von Bundestag und Bundesrat 1992 getroffene Entscheidung, dass Bundesbehörden und Forschungseinrichtungen vorrangig im Osten angesiedelt werden müssen, sei nie umgesetzt worden, kritisiert Oschmann und zeigt den Kausalzusammenhang zwischen niedrigem Lohn, niedriger Rente und niedrigem Lebensstandard auf, der letztlich in einer völligen Frustration großer Teile der Gesellschaft mündet, die enormen sozialen Sprengstoff in sich birgt.
Um der typischen schnellen Kategorisierung als „Jammerossi“ entgegenzutreten, der die Transformation vom Sozialismus zum Kapitalismus nicht kapiert hat, stellt Oschmann in seinem Buch klar: „Die derzeitige Schieflage zu kritisieren, heißt mitnichten, die DDR in Schutz zu nehmen.“ Im Gespräch mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) setzt er nach und erläutert: „Ganz klar, 1990 brauchte es einen Elitenwechsel im Osten. Ich wollte auch nicht bei Hochschullehrern studieren, die vielleicht für die Stasi gespitzelt haben oder dem System nachtrauerten.“
Das Buch
Dirk Oschmann: Der Osten – eine westdeutsche Erfindung. Ullstein Verlag, Berlin 2023. 224 Seiten, 19,99 Euro.
Aber der damalige Wechsel, habe sich zementiert, weil: „Die aus dem Westen stammenden System-Eliten rekrutieren sich nachweislich nur aus sich selber“, schreibt Oschmann und führt dazu wieder Fakten an: „Der Anteil Ostdeutscher in Spitzenpositionen in Wissenschaft, Verwaltung, Jurisprudenz, Medien und Wirtschaft beläuft sich derzeit auf durchschnittlich 1,7 Prozent!“
Bei seiner Kritik unterstellt Oschmann keineswegs eine „von Anfang an böse Agenda des Westens, den Osten unterdrücken zu wollen“, aber durch die Besetzung der wichtigsten Schaltstellen mit Westdeutschen werde der Osten systematisch einer gesellschaftlichen Teilhabe beraubt und auch der Möglichkeit, einen eigenen öffentlichen Diskurs über seinen Zustand zu entwickeln. Vielmehr werde häufig auch über die Medien nach wie vor das Bild vermittelt, der „Ossi an sich“ sei „inkompetent, faul und generell unfähig“.
Eine besondere Form des Ostdeutschen-Bashings hat Oschmann gegenüber Sachsen ausgemacht, wo er selbst als Hochschullehrer arbeitet. Wenn man die Metropolen Leipzig und Dresden einmal herausnehme, werde Sachsen vom Westen aus als der „Osten des Ostens“ klassifiziert: „Alle waren bei der Stasi, alle waren gedopt, alle sprechen Sächsisch, alle sind Nazis“. Mit dieser Form von Verächtlichmachung, bei der der sächsische Dialekt als „hässlich und dumm“ noch einmal eine besondere Rolle spiele, werde man nicht nur nicht weiterkommen, sondern es drohe schlimm zu enden, meint Oschmann.
„In Ostsachsen kommen aufgrund von Abwanderung Richtung Leipzig, Dresden, Berlin und Westen auf 300 junge Männer nur noch 100 junge Frauen“, schreibt Oschmann. Die Folgen für das soziale Gefüge vor Ort und für Gesellschaft und Demokratie könne sich jeder selbst ausmalen.
„Die Wahlergebnisse, die die AfD im Osten erzielt, empfinde ich als extrem bedrohlich“, sagt Oschmann und unterstreicht, dass sich der Westen hier nicht aus der Verantwortung stehlen könne – denn mit Ausnahme von Tino Chrupalla sei die gesamt AfD-Führungsspitze mit Politikern aus dem Westen besetzt: von Alexander Gauland über den inzwischen ausgetretenen Jörg Meuthen, Alice Weidel, Beatrix von Storch bis hin zum inzwischen ausgeschlossenen Andreas Kalbitz und Björn Höcke. „Dennoch wird die AfD vornehmlich als Partei des Ostens wahrgenommen, dessen Ansehen dadurch noch zusätzlich beschädigt wird.“
Die Verächtlichmachung des Ostens, so Oschmann, habe inzwischen zu einer Art Identitätskrise geführt, die sich bei ostdeutschen Eliten dadurch zeigt, dass die eigene Herkunft verschwiegen oder nur „zur Not“ thematisiert wird. Es habe sich ein Schamgefühl entwickelt, aus einer Region zu stammen, die irgendwie nicht zum großen Erfolgsmodell dazugehört. Bei jungen Männern aus sozial schwachen Schichten habe sich dagegen eine Art trotziger „Ostmentalität“ herausgebildet – es gebe Kampfsportwettbewerbe unter Titeln wie „Ostdeutschland kämpft“, wo dann auch Neonazis beteiligt seien. Hier verkehrt sich die Scham in Aggression, die sich letztlich auf der Straße Bahn bricht.
Oschmann will einen öffentlichen Diskurs anschieben. „Das Sprechen über Ostdeutschland muss sich ändern, auch in den Medien“, sagt er. Es müsse ein Bewusstsein geschaffen werden für eine zum Himmel schreiende Ungleichheit. „Wenn wir aus der Teilung des Landes nicht herausfinden, wird auch das Vertrauen in die Demokratie weiter schwinden und die Gesamtgesellschaft einen Schaden nehmen, der sie längerfristig an den Rand ihres Zusammenhalts führen dürfte“, heißt es am Ende des Buches.