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Diffus und unberechenbar

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Von: Jan Sternberg, Felix Huesmann

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Beim Protest gegen die Corona-Regeln marschieren Zehntausende neben Rechten, die ganz andere Ziele verfolgen. Blenden sie das einfach aus?

Der Redner auf der Bühne heizt sein Publikum an: „Es ist die Zeit der Straße!“, ruft der frühere AfD-Politiker und Landtagsabgeordnete Heinrich Fiechtner bei einer Kundgebung von Corona-Skeptischen in Magdeburg. „Erobert eure Städte. Nehmt diese Stadt ein!“ Kurz darauf drängen einige der 1500 Zuhörer:innen auf dem Alten Markt der sachsen-anhaltischen Landeshauptstadt gegen die Polizeiketten, die den Platz abriegeln. „Straße frei!“, rufen sie, es kommt zu Rangeleien und Pfeffersprayeinsatz. Dann beruhigt sich die Lage.

„Ihr braucht keine großen Redner, ihr braucht keinen Heinrich aus Stuttgart, ihr braucht euch selbst“, hatte Fiechtner zuvor gerufen. Was eine rhetorische Figur sein sollte, wurde zur treffenden Lageeinschätzung. Zwar hatten – ungewöhnlich für die aktuelle Protestwelle – eine Reihe prominenter „Querdenkerinnen“ wie die Ärztin Carola Javid-Kistel und die AfD-Bundestagsabgeordnete Christina Baum mobilisiert; aber die meisten der 5000 Menschen, die am Wochenende nach Magdeburg gekommen waren, leben in der Region.

Dabei waren Ältere, Familien und AfD-Politiker bis hin zum Landesvorsitzenden und Landtagsfraktionschef, Anhängerinnen der „Querdenker“-Partei „Die Basis“ – und jede Menge junge Männer mit Aggressionspotenzial. Eine vermummte Abordnung der Neonazipartei „Neue Stärke“ wurde schon früh von der Polizei eingekesselt. Die aktuelle Welle der Corona-Proteste ist diffus, breit gefächert, unberechenbar.

Trotz so viel Gewaltbereitschaft blieb der Zug größtenteils friedlich. Von Umstehenden gab es verständnisvolle Reaktionen: „Dass eine Impfpflicht die Leute so aufwühlt, kann ich schon nachvollziehen“, sagte ein Mann am Straßenrand. Doch geht es wirklich nur ums Impfen? Oder nicht schon lange um alles?

In Wolgast in Vorpommern ist Wolf Wagenbreth Mitorganisator der Umzüge, die jeden Mittwoch mehrere Tausend Menschen in die 11 000-Seelen-Stadt bringen. Er ist Gemeindevertreter in Trassenheide auf Usedom. „Ich bin kein Rechter“, sagt er ungefragt. Bei den Demonstrationen gebe es „viele Themen“, sagt er, „die Benzinpreise, den Genderwahn, das Krankenhaus“.

In Wolgast gibt es keine Geburtsstation mehr, für deren Wiedereröffnung demonstrieren die Menschen schon seit Jahren. Die Aufregung über die Corona-Regeln habe alle diese Themen zusammengeführt: „Wir wollen, dass in dieser Gesellschaft wieder Ordnung herrscht“, sagt Wagenbreth. „Wir müssen diese korrupte, verlogene Politik stürzen“, heißt es in einem Mobilisierungsvideo. Keine rechte Rhetorik?

Ebenfalls in Wolgast aktiv ist Petra Albrecht-Kühl, AfD-Mitglied mit Protestgeschichte: 2016 zogen ihr Mann und sie einen „Pegida“-Klon im Nordosten auf. Am Montag sprang sie auch als Versammlungsleiterin in Rostock ein. Die Protestszene im Nordosten ist eng vernetzt. Der nächste Schritt soll eine zentrale Veranstaltung in Schwerin sein. Die Demonstrationen könnten sich stärker in größere Städte verlagern, nachdem sie in der Provinz eine kritische Masse erreicht haben, vermuten Beobachter:innen.

Wenn der Bundestag über eine allgemeine Impfpflicht abstimmt, ist auch eine Mobilisierung für Aktionen in Berlin wahrscheinlich – wobei unsicher ist, wer dort nach dem faktischen Zerfall der „Querdenken“-Bewegung eine Großdemonstration anmelden wird.

Bisher war die dezentrale Verankerung die Stärke der neuen Protestwelle: Selbst in kleinsten Städten versammelten sich mal ein Dutzend, mal ein paar Hundert Menschen. Wie das Bundesinnenministerium am Dienstag mitteilte, nahmen an den bundesweit 1046 Veranstaltungen am Montagabend rund 188 000 Menschen teil. In Rostock zogen bis zu 4000 Menschen durch die Stadt. Vermummte Rechtsextreme durchbrachen eine Polizeiabsperrung. Gewalt- und protesterfahrene Neonazis und Hooligans agieren vielerorts als taktische Reserve, um den Demonstrierenden bei Bedarf den Weg freizuprügeln.

Die aktuelle Protestwelle nahm ihren Ausgang im Herbst in Sachsen, angeführt von der vom Verfassungsschutz beobachteten rechtsextremen Partei „Freie Sachsen“. „Die ‚Freien Sachsen‘ dienen bundesweit klar als Vorbild für die dezentrale Organisation der Proteste“, sagt der Politikwissenschaftler Josef Holnburger, der die Entwicklung der Proteste für das gemeinnützige Center für Monitoring, Analyse und Strategie beobachtet.

Dabei orientiert sich die Protestbewegung nicht nur in der Form der oft als „Spaziergänge“ verniedlichten Proteste an den sächsischen Rechtsextremen. Als Ableger wurde schon am 17. November des vergangenen Jahres ein Telegram-Kanal der „Freien Niedersachsen“ eingerichtet, Anfang Dezember folgten die „Freien Nordrhein-Westfalen“ und weitere landesweite und regionale Ableger. Wer hinter diesen Kanälen steckt, bleibt unklar.

Einen Einblick in die Gedankenwelt der Protestszene bieten die zugehörigen Chatgruppen in mehreren Bundesländern. „Man sieht in diesen Gruppen die klassischen verschwörungsideologischen Elemente, wie die Behauptung, es gebe einen geheimen Plan hinter Corona, um die Weltbevölkerung zu reduzieren oder die Wirtschaft zu zerschlagen“, berichtet Holnburger. „Das sind keine neuen Narrative, sondern diejenigen, die wir schon aus den letzten zwei Jahren kennen.“

An einigen Orten sind nicht nur rechtsextreme und verschwörungsideologische Thesen bei den wöchentlichen Protesten sichtbar, sondern auch prominente Figuren dieser Szenen. Beispiel Paderborn: In der ostwestfälischen Großstadt veranstaltet eine Gruppierung mit dem wohlklingenden Namen „Grundrechte Paderborn“ die montäglichen Demonstrationen. Auf ihrer Website erklärt die Gruppe, sie sei ein „Zusammenschluss ähnlich denkender Menschen aus der Mitte der Gesellschaft“. Und: „Menschenverachtendes radikales Gedankengut hat in unserer Bewegung keinen Platz.“

Schon die zweite Woche in Folge demonstrierte am Montag jedoch der vorbestrafte rechte Rocker und ehemalige Polizist Tim Kellner mit seiner Rockergruppe in Paderborn mit. In der vergangenen Woche steuerte Kellner dort auch einen Redebeitrag bei und verkündete: „Der Faschismus ist wieder da in Deutschland!“ Der Mann, der hier so über Corona-Regeln sprach und dafür Applaus bekam, hatte sich in der Vergangenheit vor allem bei rassistischen und islamfeindlichen Demonstrationen hervorgetan. Er gehört zu den wichtigsten Influencern der rechten Szene. Für die Paderborner Protestierenden aus der „Mitte der Gesellschaft“ offenbar eine willkommene Mobilisierungshilfe: Nach rund 600 Menschen in der vergangenen Woche nahmen am Montag laut Polizeiangaben etwa 2500 Menschen an der Demonstration teil.

Auch andere rechtsextreme Gruppen wie die Identitäre Bewegung versuchen zunehmend von der steigenden Zahl und Größe der Demonstrationen zu profitieren. Holnburger resümiert: „Rechtsextreme Akteure sind innerhalb dieser Protestbewegung in den vergangenen Monaten insgesamt stärker in den Vordergrund gerückt.“ Es handele sich um „eine heterogene Bewegung, die sich aus verschiedenen Charakteren zusammensetzt, aber auf jeden Fall rechtsoffen ist und Rechten und Rechtsextremen immer wieder eine Bühne bietet.“

Die AfD will sich das Personenpotenzial zunutze machen, das sich wöchentlich auf den Straßen versammelt. Die Partei bewirbt die Proteste, ihre Vertreter:innen sind fast überall dabei, treten jedoch in den seltensten Fällen selbst als Anmelderinnen und Organisatoren auf. „Der Protest soll breit bleiben, wir wollen niemanden verschrecken, der nicht zu einer AfD-Demonstration gehen würde“, sagt ein führender Parteivertreter.

Der Partei gehe es darum, ein Protestpotenzial zu nähren, das auch nach dem Ende der Pandemie wieder auf die Straße gehen kann. „Auch wenn die Bewegung im Frühjahr zerfasern sollte – im Herbst sind wir wieder da. Dann geht es vielleicht um die Folgen der Inflation oder die nächste Migrationswelle“, sagt der AfDler.

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