Die Wurst wird wurscht

Immer mehr Menschen verzichten häufiger oder ganz auf Fleisch. Auf der Messe Grüne Woche in Berlin ist das ein großes Thema. Die Landwirtschaft bereitet sich auf die Veränderungen vor.
Jens Engelken will vorbereitet sein. „Wir versuchen uns darauf einzustellen, dass wir weniger Fleisch produzieren“, sagt der Landwirt. „Dafür aber interessanteres.“ Engelken sitzt an einem Tisch in Halle 3.2 des Berliner Messegeländes und berichtet von der Arbeit auf seinem Hof im Emsland. Nach zwei Jahren Corona-Pause zieht die weltgrößte Messe für Ernährung, Landwirtschaft und Gartenbau, die internationale Grüne Woche, wieder Hunderttausende in die Hauptstadt.
Einer von ihnen ist Engelken. 42 Jahre, Landwirt in siebter Generation. Neben 200 Mastrindern und mehr als 80 000 Hennen hält er zehn Milchkühe und betreibt Ackerbau. Er ist angereist, um als „Agrarscout“ im Forum Moderne Landwirtschaft den Messebesucher:innen seinen Beruf näherzubringen. Wer mit ihm redet, merkt, dass die Landwirtschaft mehr für ihn ist als nur Broterwerb. Er will sich einsetzen für seine Branche. Und Wege finden, sie für die Zukunft aufzustellen.
Auf seinem Hof hat er eine Biogasanlage errichtet, die Haltung seiner Milchkühe will er auf Biostandard umstellen. Und er rechnet mit einem Umbruch bei der Rindermast. In zehn bis 15 Jahren würde er nicht mehr darauf setzen, sagt er. „Ich würde dann nicht mehr in einen Mastbetrieb investieren.“
Was Engelken beschreibt, treibt viele in der Branche um. Essgewohnheiten und die Erwartungen der Gesellschaft an die Landwirtinnen und Landwirte ändern sich – schneller und radikaler als jemals zuvor. Am auffälligsten ist das beim Fleisch.
Galten Schnitzel, Frikadellen und Rouladen noch vor wenigen Jahren als quasi unverzichtbarer Bestandteil einer anständigen Mahlzeit, geht der Fleischkonsum seit Jahren zurück. Zuletzt hat jeder und jede Deutsche im Schnitt 55 Kilo Fleisch und Wurstwaren pro Jahr zu sich genommen. Anfang der 1990er-Jahre waren es fast zehn Kilo mehr.
Der Trend ist eindeutig und die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass er weitergeht, denn nicht nur Tierschützer:innen, sondern auch Ernährungswissenschaftler:innen halten auch die 55 Kilogramm für immer noch viel zu viel. Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) empfiehlt, pro Woche nicht mehr als 300 bis 600 Gramm Fleisch oder Wurst zu essen. Aufs Jahr gerechnet wären das höchstens 31 Kilogramm.
Jörg-Andreas Krüger, Präsident des Naturschutzbunds Deutschland (Nabu) verweist darauf, dass der Fleischkonsum zwar gesunken sei, aber eben immer noch ein sehr hohes Niveau habe. „Alle OECD-Staaten sind auf diesem sehr hohen Level“, so Krüger. Allerdings sieht auch er den Trend zu veganer und vegetarischer Ernährung.
Und dieser Trend ist messbar: Der Lebensmittelhandel verzeichnet seit Jahren steigende Absätze von Fleischersatzwaren. 2021 produzierten deutsche Unternehmen 17 Prozent mehr Fleischersatzprodukte als noch 2020, heißt es vom Lebensmittelverband, der sich auf das Statistische Bundesamt bezieht. Wurst und Schnitzel aus Soja oder Erbsen sind längst kein Nischenprodukt mehr, sondern füllen immer mehr Regalmeter in den Supermärkten. Der Hersteller „Rügenwalder Mühle“ verkaufte 2021 erstmals mehr vegetarische und vegane Produkte als Fleisch. Und selbst auf dem jüngsten Oktoberfest gab es neben Haxn und Hendl erstmals auch vegane Weißwurst.
Immer mehr – vor allem junge – Menschen setzen auf vegetarische oder vegane Ernährung. Auch „Flexitarier“, die einfach weniger Fleisch essen, befeuern den Trend. Und der ist nicht nur in den hippen Vierteln von Berlin oder Hamburg spürbar. Noch vor 15 Jahren musste man in vielen Landgasthöfen die Speisekarte lange studieren, bis ein vegetarisches Gericht auftauchte – von veganer Kost ganz zu schweigen. Heute stellen sich immer mehr Gastronominnen und Gastronomen darauf ein, dass der Hunger nach Fleisch geringer wird.
Und auch auf bei der Messe Grüne Woche ist das Thema omnipräsent. Zahlreiche Anbieter locken mit vegetarischen oder veganen Häppchen, Start-ups präsentieren, wie sich „Fisch“- oder „Eierspeisen“ ganz ohne Tierprodukte herstellen lassen. „Wie sieht dein Teller der Zukunft aus?“, fragt ein Schild an einem der Stände die Messebesucher:innen.
Vegetarischer als heute, glaubt selbst Rindermäster Engelken. Zwar kann er sich nicht vorstellen, dass die Menschen auf den Sonntagsbraten verzichten, aber an Werktagen werde der Fleischkonsum zurückgehen, glaubt er. Zwei- bis dreimal die Woche Fleisch auf dem Teller, das hält Engelken für denkbar. „Das Gros wird nicht tierisch sein“, ist seine Vermutung.
Wie sich die Verbraucherstimmung wandelt, beobachtet vor allem der Handel genau. Wenige Minuten, nachdem Engelken gesprochen hat, tritt Lidl-Einkaufs-Chef Christoph Graf auf die Bühne in Halle 3.2. Er ist Teilnehmer eines Panels, zu dem das Forum Neue Landwirtschaft eingeladen hat. Wie die Landwirtschaft in 20 Jahren aussehen werde, will die Moderatorin wissen. „Wir werden eine nachhaltigere Landwirtschaft haben“, sagt Graf. Außerdem werde es ein neues Gleichgewicht zwischen pflanzlicher und tierischer Proteinernährung geben.
Laut dem Bundesagrarministerium lebten zuletzt mehr als 200 Millionen Nutztiere in Deutschland – allen voran Geflügel, gefolgt von Schweinen, Rindern und Schafen. Sie legen Eier, geben Milch oder werden zu Fleisch verarbeitet. Und sie haben Hunger: Fast 60 Prozent des Getreides in Deutschland werde an Tiere verfüttert, heißt es in einem Bericht der Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung. Naturschutzverbände wie der Nabu oder das Umweltbundesamt verweisen schon länger auf die ökologischen Folgen von Sojaimporten aus Südamerika und die Überdüngung der Felder. Wer weniger tierische Produkte konsumiere, beanspruche deutlich weniger Fläche, urteilt das Bundesumweltamt. Neben dem Tierschutz ist das für viele Verbraucherinnen und Verbraucher ein gutes Argument, um auf das Schnitzel zu verzichten.
Auf den Trend zu weniger Fleisch stellt sich auch der Bauernverband ein. „Mehr Menschen verzichten teilweise oder ganz auf Lebensmittel vom Tier“, heißt es im aktuellen Situationsbericht des Verbands. Gleichzeitig würden Aspekte des Tierwohls mehr in den Vordergrund rücken – auch bei Fleischprodukten. „Jede Veränderung bringt auch neue Chancen mit sich“, sagt Joachim Rukwied, Präsident des Deutschen Bauernverbands. „Wir Bauern beobachten das genau, entwickeln uns weiter. Inzwischen bauen einige Kirchererbsen oder Quinoa an.“
Die Tierhaltung sei auf Tierwohl ausgerichtet, Klimaschutz und Artenvielfalt ein großes Thema auf den Höfen. „Dafür brauchen wir aber die Unterstützung der Verbraucherinnen und Verbraucher. Nur wenn die gezielt nach den hochwertigen, heimischen Erzeugnissen greifen, kann das gelingen“, so Rukwied.
Denn der Bauernverband erlebt etwas, das derzeit an vielen Stellen spürbar ist: Durch die gestiegenen Energiepreise und die hohe Inflationsrate bleibt vielen Menschen weniger Geld am Ende des Monats übrig. Selbst wer lieber die Salami aus guter Tierhaltung kaufen würde, muss sich das jetzt teilweise zweimal überlegen. „Die Menschen kaufen verstärkt im Preiseinstiegssegment ein“, sagt Rukwied.
Der Bauernverbandspräsident beobachtet außerdem noch einen anderen Trend: „Wir erleben derzeit eine Verlagerung einiger Bereiche ins Ausland“, sagt er. In den vergangenen zehn Jahren sei der Schweinebestand in Deutschland um 5,8 Millionen Tiere reduziert worden, während er in Spanien in dem Zeitraum um 7,4 Millionen gestiegen sei. „Wir müssen Landwirtschaft in Deutschland erhalten, auch Tierhaltung“, fordert er. „Noch immer essen etwa 90 Prozent der Deutschen Fleisch. Das wird sich auch so schnell nicht ändern.“
Und schon aus ökologischen Gründen brauche es Tierhaltung in Deutschland. „Nur so ist eine Kreislaufwirtschaft zu gewährleisten. Gerade die ökologisch wirtschaftenden Landwirte sind angewiesen auf den wertvollen, organischen Dünger aus der Tierhaltung“, so Rukwied.
Auch Nabu-Präsident Krüger plädiert aus diesem Grund dafür, weiter Tiere zu halten, allerdings regional verteilt und angepasst an die jeweiligen Flächen. Wo etwa hohe Feuchtigkeit herrsche oder das Gelände unwegsam sei, sei eine andere Bewirtschaftung oft gar nicht möglich, sagt Krüger. Dort sei es sinnvoll, Wiederkäuer zu halten – Schafe auf einem Deich etwa.
Doch deutlich weniger Tiere müssten es sein, fordert Krüger. Vor wenigen Tagen hat der Nabu die Studie „Ernährung sichern und gleichzeitig Natur und Klima schützen“ veröffentlicht. Zum vermeintlichen Widerspruch zwischen Klima- und Naturschutz und der Ernährungssicherheit einer stetig wachsenden Bevölkerung kommt die Studie zu dem Schluss: Es geht beides. Allerdings müssten dazu die Ernährungsgewohnheiten geändert werden. Denn eine stärker auf Pflanzen basierende Ernährung benötige deutlich weniger Fläche für den Anbau von Nahrungsmitteln als zur Erzeugung von tierischen Proteinen, vor allem Fleisch, notwendig sei.
Nabu-Präsident Krüger regt an, den Fleischkonsum auf 400 Gramm pro Woche zu reduzieren. Das wäre in etwa im Rahmen der Empfehlungen der DGE. Nicht purer Vegetarismus, aber eben weniger Fleisch als langfristige Lösung für die Landwirtschaft also.
Krüger blickt optimistisch in die Zukunft. „Ich glaube, wir werden eine unglaubliche Diversität sehen können.“ Heute würden viele Bauern ihre Tiere an die industriellen Massenketten verkaufen. „Ich glaube, gerade für Landwirte, die innovativ sind, kann es mehr Laden- und Direktvermarktung geben. Da kann es Spezialitätenproduktion geben.“
Auch Engelken hat schon Ideen, wie er sein Fleisch „interessanter“ machen kann, wie er es nennt. Er liebäugelt mit der Idee, mit einem befreundeten Landwirt Wasserbüffel zu halten. Und er hat auch Pläne abseits der Tierhaltung: „In erneuerbaren Energien sehe ich die Zukunft“, sagt er. Das Biogas sorge für regionale Wertschöpfung und für eine Direktvermarktung von Wärme.
Und wie blickt er auf die kommenden Jahre als Landwirt? „Als Unternehmer musst du immer an den Erfolg glauben“, sagt er. „Aber dich eben auch darauf einstellen, dass Erfolg nicht unbedingt nur von der Masse kommt.“