Die ersten 100 Tage durchgebissen

Giorgia Meloni vollzieht einen Kulturwandel in Italiens Politik: Alles Schrille und Aggressive ist passé. Das kommt auch in Europa gut an Von Dominik Straub
Man kann nicht sagen, dass Giorgia Melonis Wahlsieg vom 25. September 2022 in Europa viel Euphorie verbreitet hätte – im Gegenteil: Das Magazin „Stern“ kürte sie noch kurz zuvor zur „gefährlichsten Frau Europas“, und die italienische Linke versuchte – wenn auch vergeblich – einen „republikanischen Pakt“ zur Rettung der Verfassung zu zimmern, die durch Meloni in akuter Gefahr sei.
Das Wahlresultat von Melonis „Fratelli d’Italia“ fiel dann aber alles andere als brillant aus: 26 Prozent bei der bisher geringsten Wahlbeteiligung. Zusammen mit ihren Koalitionspartnern Silvio Berlusconi und Matteo Salvini reichte es schließlich zur Bildung einer Koalition.
Jetzt ist die – zumindest von ihren traditionellen Selbstverortungen her – am weitesten rechts stehende Regierung seit dem Zweiten Weltkrieg seit 100 Tagen im Amt. Von den Ängsten ist nicht mehr viel übrig. Beim bislang wichtigsten Projekt, dem Staatshaushalt, hat Meloni den vorsichtigen Kurs von Vorgänger Mario Draghi fortgeführt. Meloni hat sogar, den Staatsfinanzen zuliebe, die von Draghi eingeführte Verbilligung von Benzin und Diesel zum Teil wieder aufgehoben – Italien spart so jeden Monat eine Milliarde Euro. Als ebenso verlässlich hat sich Meloni auch bei der Unterstützung der Ukraine gezeigt – obwohl Berlusconi mit Wladimir Putin eine langjährige Männerfreundschaft verbindet und Salvini noch kurz vor der Invasion T-Shirts mit dem Putin-Konterfei trug.
Pragmatismus siegt
Von der schrillen und aggressiven Anti-EU-Rhetorik, mit der Meloni im Wahlkampf auf Stimmenfang gegangen war, hört man nichts mehr. Sie hat wohl eingesehen, dass Italien ohne Europa wirtschaftlich und finanziell nicht überleben würde: Brüssel überweist aus dem EU-Wiederaufbaufonds insgesamt 191 Milliarden Euro an Rom. Das aufs Spiel zu setzen, kann sich keine Regierung leisten und Meloni weiß, dass ihr das nicht mal ihre eigenen, vorwiegend europaskeptischen Wählerinnen und Wähler verzeihen würden. Ihre europapolitische Kehrtwende kompensiert Meloni mit identitären Vokabeln: Wenn sie von Italien redet, sagt sie immer: „la nostra nazione“ – unsere Nation. Das wirkt etwas albern, aber die Wortwahl hält ihr nationalistisches Publikum bei Laune.
Die Instinkte ihres Publikums bedient die 46-Jährige auch in anderen Bereichen, insbesondere in der Migrationspolitik. So werden den NGO-Rettungsschiffen inzwischen konsequent Häfen zugewiesen, die im Norden liegen: Ancona, La Spezia, Ravenna, Livorno. Das zwingt die privaten Hilfsorganisationen und die von ihnen geretteten Flüchtlinge zu mehrtägigen, unnötigen Schiffsreisen, die mit viel Zeitverlust und hohem Treibstoffverbrauch verbunden sind. Die Strategie geht aber auf: Zahlreiche Hilfsorganisationen haben ihre Rettungsaktionen aus finanziellen Gründen einstellen müssen. Am Problem ändert sich freilich nichts: Trotz der Schikanen gegen die NGOs sind in diesem Jahr bereits 4500 Geflüchtete in Italien gelandet, doppelt so viele wie im vorigen Jahr.
Zukunft statt Nostalgie
Abgesehen von den ideologischen Happen, die Meloni den Rechtsnationalen serviert, wirkt die Politik der „Schwester“ (der Parteiname „Brüder Italiens“ ist der Beginn der Nationalhymne) jedoch erstmal weitgehend pragmatisch. In ihrer Partei wimmelt es zwar immer noch von unbelehrbar nostalgischen Mussolini-Fans, und auch Meloni ist bei ihren Distanzierungen vom Faschismus lange ambivalent geblieben. Aber sie sucht das Heil nicht in der Vergangenheit: Meloni steht im Unterschied zu vielen ihrer männlichen und patriarchalisch verbohrten Parteigenossen mitten im 21. Jahrhundert. Bestimmte Errungenschaften – Gleichberechtigung beispielsweise – sieht Italiens erste Regierungschefin als unumkehrbar. Ditto das Recht auf Abtreibung: Vor wenigen Tagen hat das Parlament fast einstimmig einer Resolution das Placet gegeben, wonach der entsprechende Paragraf 194 unangetastet bleibt.
Giorgia Meloni, ohne Vater in bescheidenen Verhältnissen im römischen Arbeiterviertel Garbatella aufgewachsen, scheint für sich eine Mission gefunden zu haben: Der „Underdog“, als den sie sich in ihrer Antrittsrede bezeichnet hatte, will es dem ganzen Land – oder nach ihren Worten: ihrer aller Nation – zeigen. Nach dem Motto: Niemand, erst recht kein Mann, hat mich je ernst genommen – und jetzt mache ich einen richtig guten Job. Meloni will als Ministerpräsidentin eine „bella figura“ machen, nicht nur bei denen, die sie gewählt haben, sondern auch bei allen anderen – im Inland wie im Ausland. Das gelingt ihr bisher recht gut: Ihre „Fratelli d’Italia“ liegen inzwischen bei 30 Prozent Zustimmung, sie selber bei 52. 46 Prozent aller Italienerinnen und Italiener zeigen sich zufrieden mit diesen ersten 100 Tagen. Und aus Brüssel hört man auch nichts über faschistisches Wirken der „Postfaschistin“.