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„Die Cosa Nostra ist in einer tiefen Krise“

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Von: Dominik Straub

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Im beschaulichen Campobello di Mazara ist neuerdings etwas mehr los. imago images
Im beschaulichen Campobello di Mazara ist neuerdings etwas mehr los. imago images © imago

Mit der Verhaftung des Superpaten Matteo Messina Denaro endet eine blutige Ära Italiens. Die Mafia ist immer noch stark, aber der Druck auf die Clans hat sich deutlich erhöht

Campobello di Mazara ist eine verschlafene Kleinstadt im Südwesten Siziliens: 11 000 Einwohnerinnen und Einwohner, staubige Straßen voller Schlaglöcher, einige Bars, ein ärmlich wirkendes Gemeindehaus, vier Kirchen. Wenn überhaupt, dann war der Ort bisher nur bekannt für einen Steinbruch, wo einst die Griechen Baumaterial für die Säulen ihrer majestätischen Tempel im nahen Selinunt abgebaut hatten. Die ehemalige griechische Stadt mit ihrer Akropolis ist eine der bedeutendsten archäologischen Ausgrabungsstätten Italiens und die touristische Hauptattraktion der Weinbau-Region.

Doch plötzlich herrscht im beschaulichen Campobello di Mazara Betriebsamkeit: Unzählige Ermittler:innen durchsuchen Wohnungen und Verstecke, TV-Teams berichten über jeden Schritt der Staatsanwaltschaft. In dem Städtchen hatte der meistgesuchte Mafiaboss Italiens, Matteo Messina Denaro, die letzten Jahre seiner 30-jährigen Flucht verbracht, bevor er am Montag in Palermo verhaftet wurde. In Campobello di Mazara, fünf Kilometer von Messina Denaros Geburtsort Castelvetrano in der Provinz Trapani entfernt, führte der Mafioso ein mehr oder weniger normales Leben: Er ging – wenn auch unter falschem Namen – einkaufen, erledigte Bankgeschäfte, grüßte die Dorfpolizist:innen und schwatzte mit den Menschen in der Nachbarschaft. „Er war immer nett und höflich“, sagen die Leute.

„Die Verhaftung von Messina Denaro ist ein wichtiger, ein großer Erfolg für den italienischen Rechtsstaat. Immerhin handelt es sich bei ihm um den letzten bedeutenden Boss der Cosa Nostra“, betont Francesco Forgione. Der ehemalige Präsident der parlamentarischen Anti-Mafia-Kommission in Rom gilt als versierter Mafia-Experte und hat mehrere Bücher über das organisierte Verbrechen in Italien geschrieben. Das Ende der langen Flucht des Superpaten werde in der Cosa Nostra große Verunsicherung und möglicherweise einen Kampf um die Nachfolge auslösen.

„Gleichzeitig macht es natürlich sprachlos, dass Messina Denaro jahrelang in seiner engsten Heimat ein normales Leben führen konnte, ohne dass die Hundertschaften von Ermittlern, die auf ihn angesetzt waren, etwas davon mitbekamen“, sagt Forgione. Die Erklärung dafür liefert er gleich selbst: „Er konnte sich auf die ,omertà‘, die mafiöse Verschwiegenheit und auf ein verlässliches Sicherheitsnetz verlassen, das ihm die ,borghesia mafiosa‘ der Stadt aufgespannt hat.“ Diese „mafiöse Bourgeoisie“ bestehe aus Freimaurer:innen, Unternehmer:innen, Freiberufler:innen und Lokalpolitikerinnen und -politikern, die nicht Mitglied der Cosa Nostra seien, aber mit ihr gemeinsame Sache machten. Allein in der Provinz Trapani gebe es mehr als ein Dutzend Freimaurer-Logen, in der sich die heimlichen Unterstützerinnen und Unterstützer der Mafia regelmäßig träfen.

Allerdings, betont Forgione, habe sich in Campobello di Mazara und in Castelvetrano am Tag der Verhaftung Denaros noch etwas anderes ereignet, unspektakulär, aber aufsehenerregend: „Hunderte von Bürgerinnen und Bürgern, vor allem junge, sind auf die Straße geströmt, um die Festnahme des Bosses zu feiern“, betont der Mafia-Experte. Sie hätten keine Angst mehr vor den Clans.

Nächste Woche ist in den benachbarten Kleinstädten eine offizielle Feier geplant. Am 25. Januar werden die Einwohnerinnen und Einwohner losmarschieren und sich auf halbem Weg zwischen den Orten treffen, kündigt der Bürgermeister von Campobello di Mazara, Giuseppe Castiglione, an: „Unter den Leuten herrscht sehr viel mehr Freude als Angst, viele meiner Mitbürgerinnen und Mitbürger sagen mir in diesen Tagen nur ein Wort: Endlich!“

In der Tat ist in Italien viel passiert, seit die Superbosse Toto Riina und Bernardo Provenzano und ihr verlässlichster Killer, Matteo Messina Denaro, 1992 die Anti-Mafia-Richter Giovanni Falcone und Paolo Borsellino ermordeten und den Staat mit Bombenanschlägen herausforderten. „Wir haben Gesetze und Instrumente entwickelt, über die sonst kaum ein anderer Staat bei der Bekämpfung des organisierten Verbrechens verfügt“, betont Forgione. Er erinnert an den die Einführung des Artikels „41bis“, der lebenslange Isolationshaft für verurteilte Bosse vorsieht – ohne die Möglichkeit einer vorzeitigen Entlassung. Eine weiteres Instrument ist das flächendeckende Anzapfen von Telefonen – jedes Jahr werden in Italien zehntausende Anschlüsse abgehört. Der Tatbestand der „Begünstigung der Mafia“ erlaubt es den Behörden, auch Personen zu verhaften und jahrelang einzusperren, denen keine Straftat nachgewiesen kann – es reicht, dass sie die den Clans in irgend einer Form geholfen haben.

Die im Lauf der Jahre entwickelten Anti-Mafia-Instrumente sind rechtsstaatlich nicht unbedenklich – aber effizient. Sie erlauben es etwa dem Staatsanwalt von Catanzaro, Nicola Gratteri, jedes Jahr Hunderte von mutmaßlichen Mitgliedern der kalabrischen ‚Ndrangheta hinter Schloss und Riegel zu bringen. In Lamezia Terme in Kalabrien findet gerade ein Prozess der Superlative mit mehr als 400 Angeklagten statt. 300 davon wurden 2019 bei einer einzigen Razzia verhaftet. An der Aktion waren 2500 Personen der Carabinieri-Spezialeinheiten ROS – darunter Fallschirmjäger – beteiligt. Das sind Dimensionen der staatlichen Repression, die kein anderes Land der EU kennt.

Die Justiz trifft die Clans auch dort, wo es ihnen am meisten weh tut – ihrem Vermögen. 1996 wurde ein Gesetz erlassen, das es Behörden erlaubt, private Vermögen und Ländereien von Mafiosi zu konfiszieren und gemeinnützigen Organisationen zu übergeben. Seither hat der Staat Mafia-Güter im Wert von mehr als 30 Milliarden Euro beschlagnahmt: Hotels und Ferienanlagen, Appartementhäuser und Villen, Pizzerien und Konditoreien, Gutshöfe, Felder, Wald und Wiesen.

Der Dachverband der italienischen Anti-Mafia-Vereine, Libera, hat unzählige Kooperativen gegründet, in denen arbeitslose Jugendliche und ehemalige Drogenabhängige auf den beschlagnahmten Ländereien zusammen mit Landwirten die Äcker bestellen, Olivenöl pressen, Hartweizen mahlen und Wein keltern.

Die Produkte der Libera-Kooperativen werden in eigenen Bioläden verkauft, die den schönen Namen „Sapori della legalità“ tragen – „Geschmack der Legalität“. Der erste Laden öffnete 2007 in Rom, heute gibt es sogar einen in Corleone, der Heimatstadt von Toto Riina und Bernardo Provenzano. Die Kooperativen seien eine „doppelte Ohrfeige“ für die Clans, sagt der Gründer von Libera, der ehemalige Priester Don Ciotti: „Zum einen hat man sie enteignet, zum anderen entsteht gerade auf ihrem früheren Land so etwas wie Gemeinschaftsgefühl und Gemeinsinn.“ Beides sei Gift für die Clans: „Was Sinn stiftet und zu einem ehrlich erwirtschafteten Auskommen beiträgt, wird von der Mafia gefürchtet.“ Libera hat inzwischen im ganzen Land mehr als 15 000 Mitglieder.

„Die Cosa Nostra befindet sich in einer tiefen Krise“, betont Forgione. Die „Strategie der Blutbäder“ der „Corleonesi“ sei gescheitert, die Anführer tot oder wegen des Artikels „41bis“ in Isolationshaft. Die Mafia mordet fast nicht mehr. In den 80er- und 90er-Jahren starben in Italien jedes Jahr durchschnittlich 500 bis 600 Menschen durch die Hand der Clans, im Rekordjahr 1991 mehr als 1900. Heute liegt die Zahl der Mafia-Morde noch bei knapp zwei Dutzend jährlich, fast immer handelt es sich dabei um interne Abrechnungen. Die Mafia dezimiert sich selbst. Der letzte Polizisten- oder Richtermord liegt Jahre zurück, und Palermo, einst als „Schießstand der Cosa Nostra“ verschrieen, hatte 2019 die niedrigste Mordrate Italiens.

Messina Denaro sei einer der Ersten gewesen, der erkannt habe, dass es für die Mafia vorteilhafter ist, wenn sie das Töten einstellt, abtaucht und im Hintergrund ihren Geschäften nachgeht, sagt Forgione. Unter ihm habe sich die Cosa Nostra von einer Bauern-Mafia zu einer kapitalistischen Unternehmer- und Finanzmafia gewandelt, die in Windkraftanlagen, Supermärkte und in Privatkliniken investiere – eben mit der Hilfe der mafiösen Bourgeoisie, die sie unterstützt und mitverdient. Eine ähnliche Entwicklung hat die ‚Ndrangheta durchgemacht, die die Cosa Nostra als gefährlichste und mächtigste Mafia abgelöst hat.

Mehr als 30 Milliarden Euro Umsatz jährlich machen die Clans laut der nationalen Anti-Mafia-Direktion allein im Inland. Und längst hat die Mafia, vor allem die ‚Ndrangheta, ihre Aktivitäten ins Ausland verlagert, wie Forgione schon 2009 in seinem Buch „Mafia Export“ nachwies – mit detaillierten Karten, wo die Clan-Ableger eingezeichnet waren. Aus dem Krebsgeschwür, an dem der befallene Organismus stirbt, ist ein Parasit geworden, der sich von seinem Wirt ernährt, ohne ihn zu töten. Aber der Wirt, Italiens Gesellschaft, hat Abwehrkräfte entwickelt. Auch in den kleinen Orten Campobello di Mazara und Castelvetrano, wo die Bosse vor 20 Jahren alles kontrollierten – und die Menschen nun keine Angst mehr haben.

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