Der Schock ruft die Erinnerung wach

In Berlin rast ein Autofahrer in die Menge, ein Mensch stirbt. Die Unglücksstelle liegt direkt gegenüber dem Breitscheidplatz – und es soll ein Bekennerschreiben geben.
Der Geschäftsmann im schwarzen Anzug läuft aufgelöst über den Bürgersteig, vorbei an Dutzenden Polizei- und Feuerwehrfahrzeugen. Er zeigt auf die kleine Dönerbude an der Kreuzung Ku’damm und Rankestraße: „Das ist meine Bude, mein Onkel arbeitet da drin, ich weiß nicht, wie es ihm geht.“ Rot-weißes Flatterband versperrt ihm den Weg. Auf dem Bürgersteig versorgen Sanitäterinnen und Sanitäter Verletzte hinter Sichtschutzwänden.
Bis zu 130 Polizistinnen und Polizisten waren vor Ort, schwer bewaffnete Einsatzkräfte waren am Rand der Szenerie postiert. Ein Rettungshubschrauber landete auf dem Mittelstreifen der Tauentzienstraße. Auf der beliebten Einkaufsmeile nahe der Berliner Gedächtniskirche ist ein Autofahrer in eine Menschenmenge gefahren – letzten Angaben zufolge eine Schülergruppe. Ein Mensch starb, fünf weitere erlitten lebensgefährliche Verletzungen. Weitere drei Personen wurden schwer verletzt, wie ein Feuerwehrsprecher am Mittwoch sagte.
Zudem gebe es bei dem Vorfall am Ku’damm und der Tauentzienstraße eine unbekannte Anzahl leicht verletzter Personen, die psychologisch betreut würden, sagte ein Feuerwehrsprecher. „Wir werden alles dafür tun, den Betroffenen zu helfen“, sagte Berlins Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD). Die Frau, die bei dem Unglück getötet wurde, war eine Lehrerin aus Hessen, die mit einer Schulklasse zu Besuch in der Hauptstadt war. Das sagte Berlins Innensenatorin Iris Spranger (SPD) am Mittwoch. Ob Schüler:innen verletzt wurden, war zunächst noch unklar.
Ein 29-Jähriger fuhr gegen 10.26 Uhr mit einem Renault-Kleinwagen an der Straßenecke Ku’damm und Rankestraße auf den Bürgersteig des Ku’damms und erfasste die Schülergruppe. Dann fuhr er den Angaben zufolge zurück auf die Straße und knapp 200 Meter weiter auf der Tauentzienstraße Richtung Osten. Kurz vor der Ecke Marburger Straße lenkte er den Wagen erneut auf den Bürgersteig, touchierte ein anderes Auto, überquerte die Marburger Straße und landete im Schaufenster eines Parfümerie-Geschäfts an der Tauentzienstraße 16.
Der Mann wurde von Passantinnen und Passanten festgehalten und einem Streifenpolizisten übergeben. „Er stand deutlich unter dem Eindruck der Ereignisse“, sagte Polizeisprecher Thilo Cablitz. Es handele sich um einen in Berlin lebenden Mann. „Wir klären gerade auf, ob er sein eigenes Auto verwendet, sich eines anderen bedient oder gar eines geraubt hat“, ergänzte Cablitz. Ob der Mann vorsätzlich in die Menschenmenge fuhr oder die Kontrolle über seinen Wagen verlor, ließ die Polizei zunächst offen. „Es gibt Indizien in die eine und in die andere Richtung, ich möchte mich aber nicht auf Spekulationen einlassen“, sagte Cablitz. Laut einem Bericht der „B. Z.“ wurde bei der Durchsuchung des Kleinwagens ein „Bekennerschreiben“ gefunden. Ein gepanzertes Spezialfahrzeug der Polizei wurde für die Bergung des Renaults zur Sicherheit in der Nähe postiert. Den Bericht bestätigte die Polizei nicht.
Der Schock sitzt auch bei vielen Passant:innen tief an diesem frühsommerlichen Mittwoch. Denn der Schauplatz weckt Erinnerungen an den bisher schlimmsten Terroranschlag auf deutschem Boden, begangen mit einem Fahrzeug. Direkt gegenüber der Unfallstelle befinden sich Gedächtniskirche und Breitscheidplatz. Dort hatte im Dezember 2016 ein dschihadistischer Attentäter einen gestohlenen Lkw in den Weihnachtsmarkt gesteuert – 13 Menschen starben, mehr als 70 wurden verletzt. Danach wurde der Platz zum Schutz von Passant:innen mit Betonsperren und Pollern abgesperrt. Die Poller stehen bis heute – doch die Straßenseite gegenüber ist ungeschützt. Der Fahrer konnte ungehindert mit dem Auto von der Fahrbahn auf den Bürgersteig und zurück wechseln. Polizeisprecher Cablitz verwies aber auch auf den Unfall auf der Invalidenstraße, wo sich 2019 ein SUV überschlagen und vier Menschen auf dem Gehweg getötet hatte. Der Fahrer war trotz einer Epilepsieerkrankung und einer Gehirn-OP einen Monat zuvor Auto gefahren.
Selbst wenn die tödliche Fahrt am Mittwoch mit Vorsatz begangen wurde, bedeutet es nicht, dass jemand als Nachahmungstäter eines Terroranschlags unterwegs war. Bis heute unklar sind die Motive der Amokfahrten in Volkmarsen und Trier vor zwei Jahren, bei denen Fahrer vorsätzlich in Menschenmengen gefahren sind.
Mehrere Politikerinnen und Politiker hatten am Mittwoch ihr Mitgefühl ausgedrückt. So auch ein Sprecher von Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD). „Vor allen Dingen gilt unsere Hoffnung, dass die Schwerverletzten und Verletzten wieder genesen“, sagte er. Ermittlungen und Aufklärung liefen unter Hochdruck, es sei aber zu früh, über Hintergründe zu sprechen. mit dpa