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Der Fall des Anónimo G.

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Von: Martin Dahms

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Anónimo García (Mitte) bei einem Protestmarsch gegen die moderne Welt, 2015 in Madrid, homo velamine
Anónimo García (Mitte) bei einem Protestmarsch gegen die moderne Welt, 2015 in Madrid, homo velamine © Homo Velamine

Ein spanischer Aktionskünstler treibt den Medienzirkus um eine Vergewaltigung auf die Spitze – und muss dafür ins Gefängnis. Nun versucht ein Journalist, den Ruf des Verurteilten zu retten

Die Geschichte ist reich an absurden Volten, und eine von denen ist diese: Anónimo García arbeitete beim spanischen Ableger von Greenpeace zu Fragen der Meinungsfreiheit. Greenpeace entließ ihn, als er diese Freiheit nutzte. Anónimo García war zur Unperson geworden. Auch Amnesty International, die Gefangenenhilfsorganisation, ignorierte ihn, den friedlichsten Menschen, den man sich denken kann, nachdem sie gerade einem Hassrapper ihren Schutz gewährt hatte, dessen lyrisches Ich einem früheren Minister „einen Eispickel in den Kopf schlagen“ wollte. Für den Rapper setzten sich Leute wie Pedro Almodóvar und Javier Bardem ein, für Anónimo García setzte sich niemand ein. Niemand verstand ihn. Viele verstehen ihn immer noch nicht. Er ist ein Irrlicht. Ein komischer Künstler. Keiner von uns.

Eine andere Volte ist diese: Auch Anónimo García, der den „Kampf gegen Dogmatismus“ zu seinem Leitstern erklärt hat, ist nicht davor gefeit, die Welt in „wir“ und „die anderen“ aufzuteilen. An einem 8. März, dem internationalen Frauentag, zogen er und einige Leute vom Kunstkollektiv „Homo Velamine“ an einem Baugerüst eine spanische Flagge hoch, auf der das Motto „Viva España feminista“ prangte, „Es lebe das feministische Spanien“.

Ein paar Kerle kletterten das Gerüst hinauf und schlugen Anónimo García blau und blutig. Sie fühlten sich auf den Arm genommen, weil sie die Farben der spanischen Fahne und das „Viva“ mit der spanischen Rechten, ihren politischen Gegnern, assoziierten. Eben diese Irritation hatten die Leute von Homo Velamine beabsichtigt. Dass sie deswegen Prügel beziehen würden, nicht. Niemand außer den Beteiligten erfuhr von dieser Gewalttat. Anónimo García rief nicht die Polizei (denn die Angreifer waren ja Feministen wie er). Und als er am nächsten Tag zur Arbeit bei Greenpeace ging, erzählte er, er sei bei der Demo zum 8. März über einen Poller gestolpert. „Mann, Anónimo“, sagte ihm später Juan Soto Ivars, „das ist dieselbe Entschuldigung, die geschlagene Frauen vorbringen, wenn sie sich nicht trauen, Anzeige zu erstatten.“

Wie Banksy, nur ohne Ruhm

Juan Soto Ivars ist der Mann, der Anónimo García in diese Welt zurückgeholt hat. Er hat ein Buch über ihn geschrieben: „Niemand wird lachen. Die unglaubliche Geschichte eines Prozesses gegen die Ironie.“ Jetzt fährt er durch Spanien und stellt sein Buch vor. „Die Lesungen laufen wunderbar“, sagt er. „Vorgestern sind 200 Leute gekommen. So viele hatte ich noch für keines meiner Bücher. Männer und Frauen, Junge und Alte. Und alle verstehen es.“

Sie kommen, obwohl viele spanischen Medien, vornehmlich die linken, das Buch ignorieren, so wie sie vorher Anónimos Geschichte ignorierten. Irgendwann im Laufe des Gespräches sagt Soto Ivars: „Es ist ein Buch gegen die Presse!“, und er lacht überrascht. Er hatte sich nicht vorgenommen, ein Buch gegen die Presse zu schreiben. Er ist selber Journalist, einer der besten Spaniens. Er schreibt für El Confidencial, eine Zeitung, die im Netz groß geworden ist und ihren Autoren mehr Freiheit gibt als die meisten anderen spanischen Zeitungen, die ideologisch schrecklich festgezurrt sind. „Die Information ist keine Macht“, schreibt Soto Ivars gegen Ende seines Buches, „wenn die Medien sich weigern, sie zu verbreiten.“

Diese Geschichte hatte es besonders schwer, weil ihr Protagonist ein spanischer Banksy ohne Ruhm ist. Sein Künstlername Anónimo bedeutet „anonym“, und García ist ein Allerweltsnachname wie Meier oder Müller. Seine Aktionen haben nicht den Wiedererkennungswert der Graffiti von Banksy. Sie sind schräg, „ultrarational“, sagen die Leute von Homo Velamine. Ihr Vorbild ist der Surrealismus von Luis Buñuel. Sie ließen Aufkleber drucken: „Vier Räder ja, zwei Beine nein“, und pappten sie auf ein paar Autos. Sie organisierten 2015 eine Minidemo auf der Madrider Gran Vía unter dem Motto „Nieder mit der modernen Welt“, was zugleich eine Hommage an einen Edgar-Neville-Film war. Auf einem Kongress der Linkspartei Podemos tauchten sie als Nonnen und Mönche mit Bildern von Papst Johannes Paul II und dem Podemos-Gründer Pablo Iglesias auf und dazu ein paar Transparenten: „Pablo, Freund, Gott ist mit dir“ und „Yes, we pray“. Sie erdachten die „Veganen Stierkampffreunde“ und erklärten: „Der Stierkampf ist weit mitfühlender als die Fleischindustrie“. Sie zogen die „Viva España feminista“-Flagge auf. Bei diesen und anderen Aktionen hatten sie das stille Vergnügen, die Welt an der Nase herumgeführt zu haben. Nur wenige Eingeweihte wussten, wer sie waren, was sie taten und wollten. Sie waren Performance-Künstler:innen, die gesellschaftliche Brüche aufspürten und an ihnen ihre Kreativität ausprobierten. Gänseblümchen im Asphalt.

Am 2. Dezember 2018, einem Sonntag, schaltete Anónimo García eine Website frei, die ihn seine bürgerliche Existenz kosten sollte. Auf der Website kündigte er die „Tour de la Manada“ an, einen Stadtspaziergang durch Pamplona zu den Orten eines Verbrechens, das Spanien in Atem gehalten hatten. La Manada („Das Rudel“) war der Name einer Whatsapp-Gruppe fünf junger Männer aus Sevilla, die im Sommer 2016 die Sanfermines, das Stierhatzfest in Pamplona, besuchten. Sie hatten dort Sex mit einer jungen Frau, den sie für einvernehmlich hielten, wofür sie jedoch als Gruppenvergewaltiger in erster Instanz zu neun und in zweiter zu fünfzehn Jahren Haft verurteilt wurden.

Die Prozesse fanden im Laufe des Jahres 2018 unter fiebriger Beobachtung der spanischen Medien statt. Mit seinem vermeintlichen Angebot eines Stadtspazierganges („Was geschah in diesen 20 Minuten? Entdecke alles auf dieser Tour!“) trieb Anónimo García den Zirkus noch ein kleines Stück weiter, nach dem Vorbild der Fernsehsender und Zeitungen die von „vor Ort“ berichteten und Grafiken über die fatale Nacht brachten: Hier lernten sie sich kennen! Hier kamen sie vorbei! Hier geschah es!

Eine Lokalzeitung stieß auf die Website. Ihr Artikel darüber löste eine Welle weiterer Berichte in ganz Spanien aus, deren Tenor die Überschrift eines Madrider Blattes zusammenfasst: „Die empörende Tour durch Pamplona“. Sobald Anónimo García das erwartete Echo auf seine Aktion sah und hörte, klärte er das Publikum auf: Es gibt keine Tour, nur diese Website, mit der ich euch Medien den Spiegel vorhalte. Hierauf aber blieb das Echo fast ganz aus. Die spanischen Medien wollten nicht eingestehen, dass sie auf eine Performance hereingefallen waren, die sie schlecht aussehen ließ. Es gab ein paar Ausnahmen. Juan Soto Ivars schrieb einen Artikel und erzählte von dem Fall in einem Fernsehprogramm. Das habe so viel Wirkung gehabt „wie ein Regentropfen in einem Wasserstrudel“.

Eine Anwältin erstattete im Namen der jungen Frau, die das Opfer der Manada geworden war, Anzeige gegen Anónimo García, weil er ihre Mandantin „erniedrigt“ habe. Eine Richterin in Pamplona verurteilte ihn zu anderthalb Jahren Haft und 15 000 Euro Schmerzensgeld sowie zur Übernahme der Prozesskosten, die sich auf 12 000 Euro summieren sollten. Die nächste Instanz bestätigte das Urteil und Spaniens Oberster Gerichtshof fand daran nichts auszusetzen. Nun will sich das Verfassungsgericht mit dem Fall befassen, weil im Urteil aus Pamplona erstmals ein Artikel des Strafgesetzbuches über „erniedrigende Behandlung“ auf einen Beklagten angewandt wurde, der keinerlei Kontakt zu der Klägerin hatte: Sie fühlte sich aus der Ferne erniedrigt, weil sie durch die mediale Berichterstattung den Eindruck bekommen hatte, dass Anónimo García sie erniedrigen wollte. So stellt es jedenfalls ihre Anwältin da. Alle Erklärungen des Aktionskünstlers stießen im Gericht wie auch draußen auf taube Ohren.

Job, Freunde – alles verloren

Nach dem Urteil verlor Anónimo García seinen Greenpeace-Job, er verlor Freunde und Mitstreiter, er wurde zu keinen Diskussionsrunden mehr eingeladen. Er, der Feminist, war jetzt ein Frauenerniedriger. Die Medien beschwiegen seinen Fall. Er hatte aufgehört zu existieren. Bis er mit Juan Soto Ivars seinen Émile Zola fand, der das befreiende „J’accuse“ schrieb. Der Autor widmet das Buch der Tochter seines Protagonisten: „Für Julieta, deren Vater gut ist“.

García, blutig geprügelt nach einer Aktion in Madrid. homo velamine
García, blutig geprügelt nach einer Aktion in Madrid. homo velamine © Homo Velamine
Der Journalist und Autor Juan Soto Ivars will den Künstler rehabilitieren. dahms
Der Journalist und Autor Juan Soto Ivars will den Künstler rehabilitieren. dahms © Martin Dahms

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