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Annie Ernaux und der Antisemitismus-Vorwurf: Mutig oder „linksgedreht“?

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Von: Birgit Holzer

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Annie Ernaux in diesen Tagen in New York.
Annie Ernaux in diesen Tagen in New York. © afp

Das Echo auf Annie Ernaux’ Israel-Kritik ist in Frankreich deutlich leiser.

Die meisten in Frankreich jubeln über diesen Nobelpreis für Annie Ernaux, auch Tage nach der Bekanntgabe noch. „Bravo Annie, was für ein großer Tag für die kämpferische Literatur“, schrieb der Schriftsteller Édouard Louis auf Twitter und veröffentlichte dazu ein Foto, das ihn mit ihr als seinem literarischen Vorbild zeigt. Die Lektüre von Ernaux’ Werken, die „kraftvoll, politisch, chirurgisch“ seien, habe ihr selbst erst ermöglicht, zu der Frau zu werden, die sie sei, würdigte die Regisseurin Alice Diop die Preisträgerin. „Wir weinen vor Freude“, erklärte der Chef der radikalen Linken, Jean-Luc Mélenchon. Er ist gerade in seiner eigenen Partei „La France Insoumise“ („Das widerspenstige Frankreich“) unter Druck, da er entgegen der eigenen Grundsätze einem politischen Getreuen trotz des Vorwurfs der häuslichen Gewalt den Rücken gestärkt hat. Die Auszeichnung für die anerkannte Feministin Ernaux kommt ihm gelegen.

Denn aus ihrer Unterstützung für Mélenchon hat die 82-Jährige, die sich stets als politische Autorin verstand, nie einen Hehl gemacht. Literatur und soziales Engagement gehören für sie, die beim Schreiben von der eigenen intimen Erfahrung ausgeht, zusammen. Mehrmals rief sie zur Wahl des Linkspopulisten auf und unterschrieb gerade einen Appell zur Beteiligung am „Marsch gegen das teure Leben“ am nächsten Sonntag, den Mélenchons Partei organisiert.

„Gegenüber dem extremen Markt, der alles verdirbt, und gegenüber der extremen Rechten, die die Verzweiflung nutzt, um ihre rassistischen, sexistischen und freiheitsbedrohenden Stellungen auszubauen, rufen wir dazu auf, unsere Kräfte auf der Straße zu bündeln“, heißt es in dem Aufruf. Auf der Seite der Minderheiten und Benachteiligten zu stehen, bedeutete für Ernaux stets: politisch links zu sein, oft auch extrem links.

„Autobiografische Seichtheit“

Dass sie klar Stellung bezieht, macht sie zur Zielfläche für die, die anders denken. Hielten sich rechtsextreme Politiker wie Marine Le Pen oder Éric Zemmour, sonst nie um eine laute Reaktion verlegen, auffällig stark zurück – immerhin hat Annie Ernaux die renommierteste Auszeichnung für Literatur einmal mehr nach Frankreich geholt –, so ist das weniger der Fall bei Medien, die sich gerne zu rechten Sprachrohren machen.

Dem Magazin „Causeur“ zufolge steht die Nobelpreisträgerin für „autobiografische Seichtheit, das linksdrehende Gutmenschentum, Egozentrik, versteckt hinter sozialem Elend, mit dem literarischer Handel getrieben wird“. Sie unterstütze die „Islam-Linke“, tönt es aus der rechten Ecke, und verbreite die Ideologie des „Wokismus“, welche in diesem Fall als Bedrohung per se wahrgenommen wird.

Vergleichsweise wenig zu hören ist in Frankreich hingegen der Vorwurf, Annie Ernaux habe sich des Antisemitismus schuldig gemacht, indem sie mehrere israelkritische Petitionen unterstützte. So unterzeichnete sie 2019 neben mehr als 100 weiteren Persönlichkeiten aus der französischen Kunst- und Kulturszene einen Boykottaufruf gegen den Eurovision Song Contest in Tel Aviv, in dem Israel als „Apartheidsstaat“ bezeichnet wurde. Ein Jahr zuvor setzte sie ihre Unterschrift unter einen offenen Brief, der eine israelisch-französische Kultursaison kritisierte, 2017 unterstützte sie die umstrittene franko-algerische Aktivistin Houria Bouteldja, Autorin des Pamphlets „Le Blancs, les Juifs et nous“ („Die Weißen, die Juden und wir“).

Im jüdischen Onlinemagazin „Tribune Juive Info“ heißt es, Ernaux habe zwar zu Recht unter anderem die Beschneidung von Mädchen in Afrika, Frauenmorde in Indien, Zwangsehen in der islamischen Welt und den juristischen Status als „Minderjährige“ für Frauen in vielen islamischen Gesellschaften bekämpft. Umso erschütternder sei es aber, dass sie Israel als einziges Land mit Vehemenz verurteile: „Der Nobelpreis für Literatur ist kein literarischer Preis mehr“, folgert der Autor.

Positionen sind bekannt

Die Vorwürfe des Antisemitismus, die in israelischen Medien kursieren und auch in Deutschland viel Echo finden, greift die französische Presse kaum auf. Dort sind Ernaux’ Positionen bekannt und akzeptiert als Ansichten einer Frau, deren Radikalität sie erst dahin gebracht hat, wo sie heute steht. Von allen geteilt wurden sie ohnehin nie. „Sie hat nie geschrieben, um zu gefallen, und sie hatte den Mut, nicht zu gefallen“, so formulierte es die Schriftstellerin Alice Ferney in der konservativen Zeitung „Le Figaro“.

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