Bei Westwind stinkt es nicht

Im Auftrag von Industriepark-Betreiber Infraserv wandeln Geruchsprüfer über die Straßen des Frankfurter Stadtteils Sindlingen. Sie schnuppern, wie oft es unangenehm riecht.
Der erste Eindruck ist: Es riecht. Nicht streng oder beißend, aber auch nicht nach Rosen oder Fichtenwald. Es ist das Odeur der Klärschlammanlage, ein Hauch von Kanal. Die Gruppe ist gerade dem Reisebus entstiegen, der sie vom Besucherempfang an Tor Ost des Höchster Industrieparks in den Westen gefahren hat. Auf das Gelände der Entsorgungsbetriebe von Infraserv. Ein Rundgang durch Sindlingen steht an, mit offiziellem Geruchsprüfer, der misst, ob es stinkt oder nicht. Aber vorher gibt es noch den Theorieteil. Der ist in den Büroräumen zwischen Klärschlammverbrennung und Abwasserreinigungsanlage angesetzt. Kein Wunder also, dass es nicht nach Flieder riecht.
15 Messpunkte gibt es in Sindlingen. Jeden Tag klappert ein Prüfer drei bis vier davon ab. Die Zeiten variieren, die Prüfer riechen tagsüber aber auch nachts, an Wochenenden, an Feiertagen. An jedem Messpunkt schnuppert der Prüfer zehn Minuten lang. Das heißt, alle zehn Sekunden nimmt er eine tiefe Nase voll Luft. Dann vermerkt er auf dem elektronischen Notizblock ob er etwas riecht und was und ob der Industriepark Verursacher ist.
Mohamed Amhamdi aus dem Gallus ist so ein Prüfer. Der 26-Jährige wirkt seriös wie er mit seiner Warnweste in der Sonne steht und lächelt. Weste trägt er, damit er zu erkennen ist. Damit keine besorgten Bürger nachts die Polizei alarmieren, weil da ein junger Mann vor dem Haus steht und konzentriert beobachtet.
Bereitwillig beantwortet er Fragen der Gruppe. Amhamdi studiert Mechatronik in Darmstadt. Es macht ihm nichts aus, ab und an nachts zu arbeiten. An richtig üble Geruchsereignisse kann er sich nicht erinnern. Besondere Lieblingsgerüche hat er nicht, er ist kein Hobbykoch oder Gewürzexperte. Das ist auch nicht im Sinne des Auftraggebers. Nicht Supernasen sind gefragt, sondern normale Riecher. Entsprechend ist es Amhamdi auch nicht wichtig, ob es stinkt oder nicht. Den Erfolg seines Einsatzes bemisst er daran, ob er die Duftlage richtig wiedergibt. „So, wie es in der Realität ist.“
Die Rundgangsteilnehmer staunen ob der Ernsthaftigkeit. Doch es ist gut, dass sich der junge Prüfer auch von frechen Fragen nicht aus der Ruhe bringen lässt. Für seine Aufgabe muss er hochkonzentriert sein. Selbst wenn Passanten ihn ansprechen. Er lächelt dann höflich und bittet um Geduld. Erst wenn die zehn Minuten vorbei sind, kann er erklären, was er da eigentlich treibt. Hartnäckigen Fragern kann er auch ein Pamphlet in die Hand drücken. Schlechte Erfahrungen mit aufgebrachten Sindlingern hat er noch nicht gemacht, sagt er – und lächelt.
An der Ecke von Lachgraben und Pfingstborn unternimmt die Gruppe einen Selbstversuch. Nur 50 Meter von der Mauer des Industrieparks entfernt stinkt es. Und lärmt gehörig. Allerdings ist ein Fahrzeug der Müllabfuhr Urheber der Sinneseindrücke. Im unpassenden Moment biegt es um die Ecke und leert Tonnen. Die FES-Männer scheren sich nicht um die enttäuschten Gesichter am Wegesrand.
Mohamed Amhamdi würde in so einem Fall auf seinem Begehungsprotokoll die Kategorie „Sonstige Gerüche“ markieren. Mit dem Zusatz: Müllfahrzeug. 13 verschiedene Kategorien gibt es. Da wären die entscheidenden drei: Klärschlamm, Bioanlage und Chemiegerüche. Unschön, aber nicht dem Industriepark zuzuordnen sind Kategorien wie: Abwasser aus dem städtischen Kanal, Hausmüll, Lösungsmittel oder, drastisch, Hausbrand.
Die olfaktorischen Ereignisse aus zehn Minuten Prüfung rechnen Experten dann auf die Stunde hoch. Das ist zu 80 Prozent genau, sagt Bettina Mannebeck, Geschäftsführerin der Olfasense GmbH aus Kiel. Ihr Unternehmen schult die Prüfer und wertet das Datenmaterial aus. Zehn Prozent einer Stunde darf es laut Bundesnorm zu Geruchsbelästigung im Wohngebiet kommen.
Das heißt für Amhamdi, dass er in seinen zehn Minuten sechsmal einen Geruch feststellen kann, ohne dass das als offizieller Gestank gilt. Erst beim siebten Erschnuppern wird das Ereignis zur „erheblichen Belästigung“. Allerdings messen die Prüfer nur in Wohngebieten, weil sich dort dauerhaft Menschen aufhalten. Am Mainuferweg darf es zum Beispiel stinken wie es will – da wohnt ja niemand.
Die Zahl der erheblichen Geruchsereignisse hat sich in den vergangenen zehn Jahren verringert, sagt Guido Schmitt. Seit Sommer leitet er bei Infraserv die Abteilung Umweltschutz, seit Januar ist er zusätzlich der offizielle Immissionsschutzbeauftragter.
Auch die Intensität der Gerüche habe abgenommen. Das hätten Anlieger bestätigt. Beleg sei dafür die Zahl der Beschwerdeanrufe. 2014 waren es mehr als 200, ein Jahr später rund 100, 2016 rund 70. Allerdings weiß auch Schmitt, dass sich die Sindlinger organisiert haben und nicht mehr alle bei der Beschwerdestelle anrufen, wenn ihnen der Industriepark mal wieder stinkt.
Dennoch. Seit 2007 hat Infraserv rund fünf Millionen Euro investiert in die Anlagen, die Industrieabwässer entsorgen – nur um die Gerüche einzudämmen, sagt Schmitt. Ingenieure haben Klärschlammsilos eingehaust, eine neue Abluftreinigungsanlage gebaut und die Abluftführung der Luft aus den Hallen der Klärschlammverbrennung geändert. „Und trotzdem riecht es ab und an in Sindlingen“, sagt Schmitt.
Deswegen leistet sich das Unternehmen die Dienste von Olfasense. Einen „mittleren fünfstelligen Betrage“ kostet das im Jahr, sagt Infraserv-Sprecher Michael Müller. Das Geld sei gut angelegt. Einmal, weil das Unternehmen die Beschwerden der Bürger ernst nehme und die Geruchsbelästigungen minimieren wolle. Aber auch, um zu evaluieren, ob sich die in Geruchsvermeidung investierten fünf Millionen auch tatsächlich lohnen. Laut Guido Schmitt tun sie das. „Das sieht man, wenn wir die Anlagen mal ausschalten“, sagt er. Von Zeit zu Zeit müssen Fachkräfte die Technik warten. Dann stinkt es in Sindlingen. Erheblich.
Also möchte Infraserv auch in den kommenden Jahren das Riechprogramm fortführen. Beim Rundgang der nasalen Novizen geht es an der Gustavsallee 10 weiter. 30 Meter von der Industrieparks-Mauer entfernt. Wieder versucht die Gruppe, etwas zu erschnuppern. Und tatsächlich, da ist etwas. Aber was? Nasenflügel blähen sich auf, die Sonne scheint, die Vögel zwitschern, der Postbote feixt, der Kanal unter der Straße rauscht. Der Duft von Grünschnitt wabert über die Straße. Vielleicht ist es auch die Mülltonne, die ihren Dunst entsendet.
„Der Geruchssinn versorgt uns eher unterbewusst mit Informationen“, sagt Bettina Mannebeck. Die anderen Sinne nehmen Menschen bewusster wahr. Deshalb betreibt ihre Firma ein recht rigides Auswahlverfahren bei ihren Geruchsprüfern.
Nahezu zwei Drittel der Bewerber fallen durch. Weil sie Heuschnupfen haben oder weil sie sich nicht gut konzentrieren können. Aus Gründen der Neutralität dürfen sie auch nicht in Sindlingen wohnen oder mit dem Industriepark in Verbindung stehen. Beim Eingangstest müssen sie Referenzstoffe erschnuppern. Etwa den legendären H2S-Geruch, häufig auf Deponien zu finden und bekannt als Gestank von faulen Eiern. Bei ihren ersten Runden sind auch stets erfahrene Kräfte dabei, die unterstützen.
65 Prüfer beschäftigt Olfasense, halbjährlich müssen sie ins Training zurück. Und sie müssen den Verhaltenskodex verinnerlichen. Am Tag vor einem Einsatz dürfen sie keinen Knoblauch oder scharfen Gerichte essen, sie müssen auf Körperhygiene achten, auf Parfüm verzichten. Eine halbe Stunde vor dem Einsatz dürfen sie keinen Kaffee trinken oder Kaugummi kauen.
Da ist es fast verwunderlich, dass Geruchsprüfer nur ein Nebenjob ist. Lediglich zwei bis sechs Mal im Monat sind die Nasen im Einsatz. Zwischen 25 und 30 sind es derzeit in Sindlingen. Die Bezahlung richtet sich nach Anfahrtsweg und Tages- oder Nachtzeit der Prüfung. Etwa 50 Euro sind mindestens drin.
Der Sensor Mensch ist dabei nicht zu ersetzen, sagt Bettina Mannebeck. Ein ähnlich sensibles Messgerät gibt es nicht. Mannebeck muss es wissen. Ihr Schwiegervater gilt als Pionier der Geruchsmessung.
In den 70ern hat Heinrich Mannebeck beim Institut für landwirtschaftliche Verfahrenstechnik der Uni Kiel geforscht. „Das war eine Zeit, in der viele Städter aufs Land gezogen sind“, erzählt Tochter Bettina. Dabei hätten sie erstaunt festgestellt, dass die gute Landluft zuweilen gar nicht so attraktiv duftet.
Als sich die Beschwerden häuften, entwickelte Mannebeck Senior ein wissenschaftliches Verfahren, Geruchsbelästigung zu messen. Mit der Nase. Da traf es sich gut, dass Bettina Mannebeck ihr Studium der Umwelttechnik abgeschlossen hatte und die Forschungsarbeit in ein Geschäftsmodell überführen konnte.
Die Gruppe in Sindlingen hat derweil den Heimweg angetreten. Ihr Fazit: In Sindlingen stinkt es an diesem Tag nicht mehr als anderswo. Das Ergebnis ist aber nicht sonderlich repräsentativ. So wie drei Prozent der Messungen 2016. Olfasense prüft jede Erhebung auf ihre Plausibilität. Wenn die Wetterstation etwa Westwind meldet, kann es in Sindlingen nicht stinken. Dann wabern die Gerüche, wenn es denn welche gibt, in die andere Richtung.