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Ukrainische Zwillingsbrüder: „Als Flüchtling musst du viel leisten“

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Von: Kathrin Rosendorff

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Die Zwillingsbrüder Andrii (r.) und Dmytro Turchyn wollen in Deutschland studieren.
Die Zwillingsbrüder Andrii (r.) und Dmytro Turchyn wollen in Deutschland studieren. © Monika Müller

Die Zwillingsbrüder Andrii und Dmytro Turchyn fliehen mit ihrer Mutter vor einem Jahr aus ihrer Kiew nach Frankfurt. Jetzt geben sie alles, um in Deutschland voranzukommen.

Frankfurt - Andrii Turchyn sitzt mit seinem Zwillingsbruder Dmytro im Wohnzimmer ihrer Wohnung im ländlichen Frankfurter Stadtteil Kalbach, die Sonne scheint hinein, ein Bild des Friedens. Der 18-jährige Ukrainer sagt: „Es ist schwer, sich daran zu gewöhnen, dass immer noch Krieg ist.“ Dmytro, dessen Spitzname Dima ist, betont: „Uns war klar, als wir die Ukraine verließen, dass es wahrscheinlich für eine sehr lange Zeit sein wird.“ Die Zwillingsbrüder konnten zu Beginn des Krieges mit ihrer Mutter aus ihrer Heimatstadt Kiew fliehen. Aber nur, weil sie da gerade noch 17 waren. Sie wollten die Mutter nicht alleine lassen, hatten Angst, dass sie es nicht verkraftet hätte, wenn ihre Söhne im Krieg gestorben wären. Das erzählten sie beim ersten Interview im April 2022.

Fast ein Jahr später essen sie beim Interview Apfelkuchen, den ihre Mutter gebacken hat. Es ist einer der wenigen Momente, in denen die Zwillinge nicht lernen oder etwas erledigen. Andrii, den in seiner neuen Heimat viele Andi nennen, sagt: „Wie kann ich abhängen, wenn ich mich um so viele Sachen kümmern muss? Deutsch lernen, Zeugnisse fürs Studium übersetzen lassen, mit Unis oder dem Energieversorger Mainova sprechen, solche Dinge. Wir wollen nicht nur vom Geld des Jobcenters leben und sonst nichts tun. Wir müssen die Chance ergreifen, die uns Deutschland gegeben hat.“ Dima betont: „Wenn du ein Flüchtling bist, bist du verpflichtet, viel zu leisten.“

Ukrainische Brüder leben in Frankfurt

Man merkt, dass sie schneller erwachsen werden mussten. Keine Zeit haben, in nostalgischen Erinnerungen an ihr Leben in der Ukraine zu verharren, sondern damit beschäftigt sind, hier in Deutschland vorwärtszukommen. Seit März leben sie in Frankfurt, zunächst bei einer Gastfamilie am Riedberg, zwischendrin bei einer Gastfamilie in Sachsenhausen - und nun seit vergangenem Sommer in Kalbach in ihrer eigenen Wohnung. Diese zu finden, sei nicht einfach gewesen. „Wir sind selbst sehr aktiv geworden“, betont Andi. Viele Menschen, die sie hier kennengelernt haben, seien ihnen gegenüber sehr herzlich. Ein Mann, der in der FR ihre Geschichte las, schenkte ihnen nicht nur Dinge wie eine Mikrowelle und Möbel, sondern hilft ihnen auch bis heute bei Alltagsproblemen. „Er hat uns sehr praktisch geholfen, aber viel wichtiger ist seine Freundlichkeit und sein Verständnis. Er ist ein sehr guter Freund geworden“, sagt Andi.

Das Interview ist auf Englisch, da Dima erst jetzt einen Platz in einem Integrationskurs bekommen hat. Sein Bruder Andi kann sich gut auf Deutsch unterhalten, weil er bereits einen Kurs besuchen konnte: Monatelang pendelte er dafür fünfmal die Woche von Kalbach an die TU Darmstadt, stand um vier Uhr morgens auf. Jetzt setzt er seinen Deutschkurs in Frankfurt fort. In Kiew waren die Zwillinge bereits Studenten, denn in der Ukraine gibt es nur elf Schuljahre. „Wir müssen ein Jahr unseres Studiums in der Ukraine abgeschlossen haben und das Deutschzertifikat auf C1-Niveau erreichen, damit wir hier studieren können“, sagt Dima. Andi glaubt, das dauere mindestens noch ein Jahr. Sein erstes Jahr in Maschinenbau hat er vor wenigen Monaten online abgeschlossen. Hier überlegt er, ob er Medizintechnik studieren soll. Dima ist gerade dabei, das erste Jahr seines IT-Studiums zu beenden. Vier Stunden täglich hat er Online-Unterricht, die Professoren sitzen in Kiew. „Wenn dieser nicht wegen Stromausfall ausfällt. Manchmal dauert dieser mehrere Tage“, sagt er.

Wie sein Bruder ist er fleißig. Um 6.30 Uhr steht er morgens auf, um sein Pensum zu schaffen. Denn schon vor der Uni „mache ich IT-Aufgaben für mich selbst“ und „ein bisschen Mathe, das ist gutes Gehirntraining, habe ich festgestellt“. Am Nachmittag hat er viermal in der Woche seinen Deutschkurs im Stadtteil Bonames. Dazu kommen noch Hausaufgaben und Uni-Arbeiten. „Es bleibt keine Zeit übrig. Auch an den Wochenenden lerne ich.“ Was ist mit Clubbing? Beide betonen, dass - abgesehen vom Zeitmangel - es gerade einfach nicht der richtige Moment für Partys sei. „Außerdem bin ich auch schon in Kiew nicht gerne feiern gegangen“, sagt Dima und lacht. Seine braunen Haare hat er zum ersten Mal in seinem Leben wachsen lassen. „Ich wollte mal was anderes ausprobieren.“ Anders als sein Bruder ist er am liebsten zu Hause.

FR-Ausgabe: Ein schwarzer Tag

Der russische Angriff auf die Ukraine markiert eine Zäsur. Wie der Krieg das Denken militarisiert und sich die Sicherheitslage in Europa verändert, untersucht die Themenausgabe der Frankfurter Rundschau vom 24. Februar 2023, der wir diesen Text entnommen haben. Weitere Aspekte daran:

Neue Normalität: Frieden wird die Ausnahme sein, sagt der Soziologe Richard Sennett.

Altes Denken: Wie der Militarismus einen Siegeszug durch unsere Köpfe angetreten hat.

Neuer Alltag: Stefan Scholl berichtet für die FR aus Moskau. Der Krieg hat sein Leben verändert.

Alte Ängste: Politologe Karl-Rudolf Korte über die Sorgen der Deutschen und ihr Krisenmanagement.

Neues Leben: Flucht aus Kiew, dann Neubeginn in Deutschland: Zwei Brüder berichten über ihr Jahr.

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Die Zwillinge wünschen sich, dass der Krieg am besten schon heute vorbei wäre

Wie sehr daheim fühlen sie sich hier? Dima sagt: „Ich habe bislang nur gute Menschen in Deutschland kennengelernt. Aber ich habe immer nur auf Englisch mit ihnen gesprochen. Um die deutsche Mentalität wirklich zu verstehen, muss ich Deutsch können. Erst dann kann ich mich wie ein Teil der Gesellschaft fühlen. Momentan fühle ich mich eben oft noch wie ein Fremder.“ Sein Bruder sagt: „Ich nicht. Ich habe mich schnell als Teil der Gesellschaft gefühlt.“ Während Dima zu Hause trainiert, spielt Andi abends Volleyball und Tischtennis in Vereinen. „Dabei ging es mir von Anfang an nicht darum, nur Sport zu machen, sondern ich wollte neue Kontakte knüpfen.“ Dort übe er nicht nur Deutsch. „Ich tausche mich dort aus, so habe ich mich mit einem Sportkollegen darüber unterhalten, was für Studienfächer es hier gibt.“

Auch ihr Vater, der noch in Kiew ist, wünsche sich, dass sie hier studieren. Die Zwillinge telefonieren täglich mit ihm. Andi erzählt: „Als Bomben in der Nähe, wo unser Vater arbeitet, fielen, hat uns das natürlich Angst gemacht. Ich sah Bilder von dem Spielplatz, wo wir als Kinder gespielt haben. Und jetzt ist er zerstört, und viele Menschen sind gestorben.“ Dima sagt: „Es ist jedes Mal traurig, und du hältst den Atem an. Manchmal bomben sie wie verrückt, dann ist es wieder wochenlang ruhig in Kiew.“

Andi wird ernst, als er von einem sehr guten Freund erzählt. „Er ist ein 45-jähriger Familienvater und hat vor kurzem im Kampf ein Teil seines Beines und ein Stück seiner Hand verloren. Er will sich aber jetzt eine Beinprothese machen lassen und dann weiterkämpfen. Er ist kein Soldat, er empfindet es aber als seine Aufgabe zu kämpfen.“ Dima sagt: „Er will wie wir alle in einem freien Land leben. Einem, das nicht von den Russen besetzt wird. Trotz Putins Bedrohung mit Atomwaffen bleiben die Ukrainer sehr mutig. Sie lassen sich nicht einschüchtern. Niemand denkt, dass es eine gute Idee wäre, jetzt einfach zu kapitulieren.“ Sie sind überzeugt, dass die Ukraine am Ende gewinnen wird.

Die Zwillinge wünschen sich, dass der Krieg am besten schon heute vorbei wäre. Gleichzeitig machen sie sich Gedanken: „Was ist, wenn der Krieg morgen vorbei ist, dein Haus zerbombt, überhaupt alles zerstört ist und du keinen Ort hast, wohin du zurückkehren kannst? Wird Deutschland uns dann trotzdem zurückschicken?“, fragt sich Andi. Sie wollen alles dafür tun, dass sie hier in Deutschland einen Uniabschluss machen können. So lange hoffen sie, bleiben zu können. „So viele Menschen sind schon in diesem Krieg gestorben. Es ist wichtig, dass es auch Menschen gibt, die einen guten Abschluss haben, denn es wird eine große Krise nach dem Krieg in der Ukraine geben“, so Andi. Dima betont: „Vielleicht können wir nach unserem Studium zurückkehren und mithelfen, die Wirtschaft wieder in Schwung zu bringen.“ Könnten sie sich vorstellen, für immer in Deutschland zu leben? Das zu beantworten, sei noch viel zu früh. (Kathrin Rosendorff)

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