Sophokles im Regenwald

Der Regisseur und Autor Milo Rau hat mit Brasiliens Landlosenbewegung „Antigone im Amazonas“ inszeniert. Deutschlandpremiere feiert das Stück im Frankfurter Mousonturm
Draußen knattert leise ein Motor. Milo Rau steht auf und beugt sich zum Fenster, er verschwindet dabei halb vom Bildschirm. Dann setzt er sich wieder vor die Kamera, entschuldigt sich. Vor dem Haus mähe gerade jemand den Rasen. „Ich wollte nur schauen, ob er einen Bogen um die Blümchen macht.“ Der Schweizer Regisseur und Autor ist via Video aus Belgien zum Gespräch zugeschaltet. Seit 2018 ist er Intendant des Stadttheaters Nederlands Toneel Gent, kurz NTGent, wo Mitte Mai seine jüngste Produktion uraufgeführt wurde: „Antigone im Amazonas“. Es ist der letzte Teil seiner Antiken-Trilogie, mit dem Rau und ein ganz besonderes Ensemble nun zwei Jahre durch Europa sowie Nord- und Südamerika touren. Am 1. Juni feiert das Stück nach dem Drama von Sophokles Deutschlandpremiere im Frankfurter Mousonturm.
„Antigone im Amazonas“ ist 1984 gemeinsam mit der Landlosenbewegung MST (Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra) entstanden, der größten Bewegung Brasiliens. Nach Ende der Militärdiktatur holen sich die Menschen durch Besetzung das Land zurück, von dem sie einst vertrieben wurden. Mehr als die Hälfte der Agrarflächen Lateinamerikas gehörten einem einzigen Prozent der Bevölkerung, sagt Rau, meist den Nachkommen der ehemaligen Kolonisatoren und Sklavenhalter. Transnationale Großkonzerne produzierten auf gigantischen Monokulturen Soja, Palmöl und Rindfleisch. Wie der MST sich für eine radikale Landreform und ökologische Landwirtschaft einsetze, beeindrucke ihn zutiefst.
Mehrfach waren Rau und sein Team im Bundesstaat Pará im Norden Brasiliens, um in Workshops und Projekten das Stück zu entwickeln, erstmals 2020, zuletzt im April 2023. Die Arbeiten, die zuweilen nur über Online-Foren möglich waren, zogen sich durch die gesamte Corona-Pandemie.
Aber warum „Antigone“? Wie passt eine 2500 Jahre alte griechische Tragödie, deren Titelheldin ihren Bruder Polyneikes beerdigen will und daher in Konflikt mit dem Tyrannen Kreon gerät, in den brasilianischen Regenwald? Laut Rau eignet sich dafür kaum ein Stoff besser, aus zwei Gründen: Erstens lasse sich der Antagonismus zwischen Kreon, der unbedingt seine Macht erhalten will, und Antigone, die sich ihm widersetzt, auf den Gegensatz von modernem Turbokapitalismus und traditionellen Gemeinschaften spiegeln.
Zweitens beginne „Antigone“ mit einem Massaker, bei dem Polyneikes getötet wird, auf Geheiß Kreons aber nicht bestattet werden darf. Ein Massaker habe es 1996 auch am Amazonas gegeben, schildert Rau: Rund 1500 Landlose hatten damals eine zentrale Straße in Pará blockiert für einen „Marsch für die Landreform“. Die Militärpolizei rückte an, 19 Demonstrierende wurden erschossen, vielen sei ein Begräbnis verweigert worden.
Antigone im Turm
„Antigone im Amazonas“ von Milo Rau und der Landlosenbewegung MST feiert am Donnerstag, 1. Juni, 20 Uhr, Deutschlandpremiere am Mousonturm in Frankfurt, Waldschmidtstraße 4. Weitere Aufführungen sind am Freitag und Samstag, 2. und 3. Juni, 20 Uhr.
Sprachen des Stücks sind Englisch, Portugiesisch undTukano mit deutschen und englischen Übertiteln. Die Dauer beträgt etwa 120 Minuten.
Karten sind nach solidarischem Preissystem frei wählbar und kosten 7 Euro, 11 Euro, 20 Euro oder 35 Euro. myk
www.mousonturm.de
Zum ersten Mal werde die Antigone von einer Indigenen verkörpert, von der Schauspielerin und Aktivistin Kay Sara. Zwei brasilianische und zwei europäische Darsteller:innen agieren live auf der Bühne. „Doch das meiste ist als Videoinszenierung zu sehen“, sagt Milo Rau. Auf der Leinwand erscheinen in den Haupt- und Nebenrollen weitere indigene Aktivist:innen, darunter der Philosoph und Kapitalismuskritiker Ailton Krenak als Seher Teiresias. Der Chor setzt sich zusammen aus Landarbeiter:innen und Mitgliedern des MST, auch Überlebende des Massakers von 1996 sind dabei.
Mit ihnen und hunderten Einheimischen blockierte die Theatercrew am Jahrestag des Blutbades am 17. April besagte Bundesstraße für ein „Reenactment“ des Geschehens. Als erwartungsgemäß die Polizei kam, habe die Leiterin des MST von Pará mit ihr gesprochen: „Das ist eine Inszenierung für uns alle, auch für euch.“ Daraufhin hätten die Polizisten geholfen, die Straße zu sperren, berichtet Rau. Auch davon werden Videosequenzen eingespielt. Dem 46-Jährigen geht es stets um mehr als um ein Theaterstück oder einen Film. So war es schon bei den ersten Teilen seiner Antiken-Trilogie. „Orestes in Mossul“ hat der mehrfach ausgezeichnete Regisseur und Autor in der einstigen Hauptstadt des IS im Irak verwirklicht, „Das neue Evangelium“ entstand in einem der größten Flüchtlingslager Italiens.
„Antigone im Amazonas“ ist verknüpft mit einer Kampagne gegen „Greenwashing“, also gegen das Bestreben von Konzernen, sich mit fragwürdigen Strategien ein umwelt- und klimafreundliches Image zu verpassen. Rau spricht von „Verschleierungstaktik“ und „Pseudonachhaltigkeitsideologie“, die dazu führe, dass sich die Ausbeutung von Natur und Menschen nur weiter fortsetze. Seit der Rechtspopulist Jair Bolsonaro 2022 von Lula da Silva abgelöst wurde, habe sich zwar manches gebessert. Doch unter all den angeblichen Bio- und Öko-Siegeln werde der Regenwald schlimmer abgeholzt denn je, der Einfluss des Agrobusiness sei „wahnsinnig stark“, die Gesellschaft Brasiliens „komplett gespalten“, ähnlich wie in den USA. Dabei stelle sich weniger die Frage, „ob wir links oder rechts stehen“, betont Rau. „Es geht schlichtweg um das Überleben der Menschheit“.
Hier könne Europa noch lernen von der Landlosenbewegung, die versuche, ein alternatives Lebensmodell zu schaffen, „unbewaffnet, ohne Gewalt“. Millionen von Menschen hätten sich so eine „Parallelzivilisation“ aufgebaut, eine „Utopie“, die die Gesellschaft, die Produktion, die Bildung, die Kunst, sogar die Religion umfasse. Auch insofern habe Sophokles‘ Drama eine „fast prophetische Kraft, weil er an der Basis der Zivilisation bereit ist, diese infrage zu stellen“. Ein Umdenken sei dringend nötig, und da sei die Macht der Konsument:innen im Kapitalismus „gewaltig“, meint Rau. „Denn wir können entscheiden, welche Produkte wir kaufen.“ Auf dass es nicht wirklich noch in einer Tragödie endet.
