Mit Selbstbewusstsein gegen den Hass

Das Jüdische Museum will Berufsschüler mit dem Programm "Anti-Anti" gegen Radikalisierung und Antisemitismus stärken.
Obdachlose sind ungepflegt und betrunken, haben kein Geld und keine Familie. Muslime tragen Bärte oder Kopftuch, lesen im Koran und essen kein Schweinefleisch. So steht es zumindest auf den Zetteln, die Schüler der Klingerschule an eine Pinnwand geheftet haben. Daneben haben sie geschrieben, woher sie ihr vermeintliches Wissen über die genannten Menschen haben. „Medien“ steht da, „eigene Erfahrungen“, „Familie“ und „Social Media“. Im Grunde seien das alles nichts als billige Vorurteile, sagt Francesca, eine der Schülerinnen, die sich in ihrer Arbeitsgruppe gerade mit Obdachlosen befasst hat. Sie hält kurz inne. „Aber ich selbst denk’ ja auch so.“
Sich die eigenen Vorurteile bewusst machen, darüber nachdenken, wie kollektive Vorstellungen von sozialen Gruppen entstehen: Viel mehr ist es eigentlich nicht, was die zwölf Schülerinnen und Schüler, alle um die 17 Jahre alt, die meisten mit einem sogenannten Migrationshintergrund, an diesem Vormittag machen. Und doch ist der Workshop, der an diesem Dienstag an der Berufsschule im Nordend stattfindet, ein zentraler Baustein von „Anti-Anti“. Das Programm wurde vom pädagogischen Zentrum des Jüdischen Museums Frankfurt entwickelt, um Berufsschüler gegen Extremismus und Antisemitismus zu stärken.
Auf den ersten Blick erstaunlich: Um antisemitische Bilder, Islamismus oder den Holocaust geht es bei „Anti-Anti“ so gut wie gar nicht. Im Vordergrund steht vielmehr die Auseinandersetzung mit eigenen Diskriminierungserfahrungen und der eigenen Lebenswirklichkeit. Die Schüler rekonstruieren die Migrationsgeschichte ihrer Familie, besuchen das Museum Judengasse und drehen Kurzfilme über ihren Stadtteil. „Extremismusprävention durch kulturelle Bildung“ heißt die Idee. Für die Schüler läuft das Programm mit mehreren Modulen über ein halbes Jahr, parallel werden ihre Lehrer fortgebildet.
Wie hilft so etwas gegen Hass und Radikalisierung? „Uns geht es nicht um Betroffenheitspädagogik oder einen moralischen Zeigefinger“, erklärt Türkân Kanbiçak, die das Programm konzipiert hat. „Wir versuchen aufzuklären und zur Selbstreflexion einzuladen.“ Es gehe um die Erkenntnis: Wer Opfer von Diskriminierung sei, könne trotzdem selbst zum Täter werden. Kanbiçak, eine quirlige 57-Jährige, ist eigentlich Lehrerin, hat sich aber stets weitergebildet und ist dann ans pädagogische Zentrum des Jüdischen Museums gewechselt. „Anti-Anti“ leitet sie gemeinsam mit Kollegen und studentischen Hilfskräften. Die Hälfte ihrer Stelle wird über das Projekt finanziert, das Geld dafür kommt vom Wohnungsunternehmen Vonovia. Das Programm nehme sich die Zeit, um die Persönlichkeitsbildung der Schüler voranzubringen, erklärt Kanbiçak. „Wir thematisieren Extremismus überhaupt nicht, das kommt alles indirekt. Unsere Frage ist: Wie macht man Jugendliche stark, damit sie den Ideologen nicht ins Netz gehen?“
Konkret bedeutet das, dass während des Workshops ständig Raum für ausufernde Diskussionen ist. Als die Schüler darüber sprechen, was sie über Menschen mit Behinderung denken, entsteht eine Debatte über das Adjektiv „behindert“, das viele der Schüler hier als Schimpfwort benutzen. „Wenn ich sage, bist du behindert, dann meine ich das ja gar nicht so“, sagt ein Schüler. Kanbiçak hält dagegen: Wenn man „behindert“ als Synonym für „dumm“ verwende, sei das schon verletzend. Die Schüler, die vorhin noch berichtet haben, wie sie selbst aufgrund ihrer schwarzen Haare für Muslime gehalten werden, nicken. „Da denkt man gar nicht drüber nach“, sagt einer.
Eine Woche später. Enes sitzt im Museum Judengasse im Stuhlkreis und hält einen kleinen Kreisel in der Hand, auf den hebräische Buchstaben gemalt sind. „Das hier ist ein Dreidel“, erklärt er seinen Mitschülern, was er selbst gerade erst gelesen hat. „Das ist ein traditionelles Spielzeug, das von jüdischen Kindern an Chanukka benutzt wird.“ Dann sind seine Mitschüler an der Reihe. Nach und nach erklären sie typische religiöse Gegenstände aus Islam und Judentum: Kopftuch, Gebetskette, Kippa, Koran, koschere Süßigkeiten.
Über die Alltagsdinge, die gerade die Jugendlichen aus muslimischen Familien gut kennen, entsteht sofort eine Diskussion über die Unterschiede zwischen den beiden Religionen – und über die Gemeinsamkeiten. Die Offenbarung des Koran, erklärt Türkân Kanbiçak, orientiere sich gerade in den frühen Suren sehr an den Regeln des Judentums. Fleisch, dass gläubige Juden als koscher ansähen, sei in der Regel auch für Muslime halal, also erlaubt. Auch über ihrem Stammvater Abraham seien Juden, Christen und Muslime miteinander verbunden.
Osama, der sich selbst als gläubigen Muslim bezeichnet, glänzt in der Gruppe durch detailliertes Wissen über islamische Sichtweisen auf Jesus oder auf die Thora und die Bibel. Dass Juden ihre Toten wie Muslime auch aus religiösen Gründen niemals verbrennen, wusste er bisher allerdings nicht. Eine seiner Mitschülerinnen sagt, dass sie zwar gläubig sei, aber kein Kopftuch trage – um dann mit drei geübten Handgriffen zu zeigen, dass sie sehr genau weiß, wie man eins bindet. Die Klasse grinst. „Steht dir super“, sagt einer.
Der Experte zum Judentum, der die Klasse später auch durch die Ausstellung des Museums Judengasse führt, ist Manfred Levy. Levy ist Lehrer wie Kanbiçak und seit 2009 ans pädagogische Zentrum des Museums abgeordnet. Er berichtet der Klasse lebensnah aus dem Leben der Jüdischen Gemeinde und der Geschichte der Frankfurter Judengasse, erklärt, was eine koschere Küche ausmacht, was Matzen sind und warum jede Gemeinde eine Mikwe braucht, ein rituelles Bad. Er sagt dabei Sätze wie diesen: „Zu allen Feiertagen gibt es bestimmte Gerichte. Wir Juden essen sehr gerne.“ Die Schüler hören gebannt zu, stellen Fragen, sind manchmal interessiert und albern manchmal herum. Später wird Levy am Standort der 1938 zerstörten Börneplatzsynagoge auch über den Holocaust sprechen. Aber wichtiger ist etwas anderes: Die Schüler sollen neugierig werden.
Bei „Anti-Anti“ gehe es um das Aufstoßen von Türen, das Nachdenken über sich selbst und das Ändern von Einstellungen, sagt Türkân Kanbiçak. „Das geht nicht über den Kopf. Das Wichtigste ist ein emotionaler Zugang.“ Deshalb tippe man den Holocaust auch nur an. „Dieses Antippen ist viel effektiver, als wenn wir hier große Moralpredigten halten.“