Revolte vor der Linse

Die Fotografien von Inge Werth im Museum Giersch in Frankfurt entfalten ein Panorama der Zeitgeschichte der 60er und 70er Jahre.
Sie geht durch die Räume, und ein großes Lächeln breitet sich auf ihrem Gesicht aus. Inge Werth begegnet ihren Fotografien wieder, Bildern, die in den 60er und 70er Jahren entstanden sind. Ihre Heimatstadt Frankfurt ehrt die große Fotografin mit einer Ausstellung – 50 Jahre nach der Revolte des Jahres 1968. Es war diese Zeit, die wie eine Initialzündung wirkte in der Arbeit der Künstlerin – nach ihren Aufnahmen aus den Brennpunkten Paris und Frankfurt war sie bekannt.
Unten, im Parterre des Museums Giersch in Frankfurt, drängen sich die Menschen, kurz vor der Eröffnung der Ausstellung ist alles überfüllt. Im Stockwerk darüber ist die 87-Jährige noch alleine mit ihrem Werk. Sie geht von Bild zu Bild, nickt, schüttelt den Kopf. „Das ist zu hell abgezogen“. Aber insgesamt bleibt das Gefühl der Überwältigung: „Es ist fantastisch“, geflüsterte Worte.
Spätes Comeback
Für die Frau, die heute zurückgezogen in einem Dorf bei Hünfeld lebt, ist es ein spätes Comeback. Gerade hat sie Hunderte von Arbeiten ausgesucht, die jetzt in den Besitz der Stiftung Preußischer Kulturbesitz in Berlin übergehen. Die wichtigen Fotos über das Zeitgeschehen in Frankfurt übernimmt das Institut für Stadtgeschichte, und das Historische Museum erhält die etwa 50 Bilder des berühmten, im Jahre 2000 veröffentlichten Zyklus „Im Bett“ – der die Liegestatt als Lebensraum zeigt, mit berühmten und weniger berühmten Nutzern.
Hier und heute aber, im Museum Giersch, geht es um „Paris, Frankfurt am Main und die 1968er Generation“. Eine Zeitreise in schwarz-weißen Fotografien. Mit der Kleinbildkamera entstanden. Werth kümmerte sich nicht um stürzende Linien und kippende Perspektiven, sie wollte nah dran sein. Aufbruch in der Gesellschaft, in der Kunst, in der Literatur. Und die junge Fotografin mittendrin.
Der Betrachter kann sich aus verschiedenen Themengruppen sein eigenes Puzzle der Zeit zusammensetzen. Im Kapitel Theater und zeitgenössische Kunst gibt es eine Wiederbegegnung mit dem leider schon lange untergegangenen Theater am Turm (TAT). Hier wurde Theatergeschichte geschrieben: Der junge Regisseur Claus Peymann inszenierte die ersten Premieren des jungen Dramatikers Peter Handke: „Publikumsbeschimpfung“ (1966) oder „Kaspar“ (1968). Werth fotografiert den jungen Handke mit dem Kult-Getränk dieser Tage in der Hand: einer Afri-Cola.
In der Frankfurter Privatwohnung des Schriftstellers Adam Seide dokumentiert sie eine Performance des umstrittenen Wiener Aktionskünstlers Otto Muehl – für dessen Provokation bürgerlicher Sexualmoral fand sich damals kein öffentlicher Raum.
Ein junger Mann mit lockigem Haar steht im Oktober 1969 am Mikrofon auf einem Podium der Frankfurter Buchmesse – kaum zu erkennen ist Matthias Beltz, der später zu einem der Stars des deutschen Kabaretts aufsteigen sollte.
Immer wieder hält sie verstörende Zeichen des Widerstands gegen die verkrustete bürgerliche Gesellschaft fest. In einer Lehrlings-Kommune wirkt die Schrift an der Wand als Drohung und Versprechen zugleich: „Wir werden Menschen sein, wir werden sein, denn die Welt wird dem Erdboden gleichgemacht.“
1968: Das ist nur ein Wimpernschlag in der Geschichte und doch einer mit großer Wirkung. Die aufbegehrenden Studenten besuchen die Jugendlichen im berüchtigten Erziehungsheim Staffelberg in Biedenkopf. Am 28. Juni 1969 hocken sie gemeinsam auf einer Wiese vor dem Haus – und Inge Werth ist dabei. Die Studenten nehmen einige der proletarischen Heimkinder mit in ihre WGs nach Frankfurt – doch dieser Versuch der Integration scheitert bald.
Inge Werth ist eine Reporterin mit der Kamera – doch ihr besonderer Blick für das außergewöhnliche Bild hebt sie aus vielen anderen hervor.
Jürgen Habermas diskutiert am Pult mit streikenden Studenten – und der Soziologe wirkt dabei wie ein besorgter Vater. Ein pausbäckiger Studentenführer Daniel Cohn-Bendit lümmelt sich – und scheint dabei so entspannt wie selten.
Bilder vom Häuserkampf im Westend
Wichtige Dokumente sind die Bilder vom Häuserkampf im Westend Anfang der 70er Jahre – die Menschen aus dem Viertel wehrten sich gemeinsam mit den Studenten gegen den Abriss von Villen zugunsten von Bürobauten. Werth gelingen Fotos vom ersten besetzten Haus Eppsteiner Straße 47 – hier waren auch Migranten engagiert. „Zellen nein, Wohnungen ja“: Das Transparent kündet vom Protest gegen unzumutbare Wohnverhältnisse.
Bei der Eröffnung hebt Manfred Großkinsky, der Direktor des Museums Giersch, hervor, dass Werth stets „Respekt vor ihrem Gegenüber“ gehabt habe.
In der ersten Reihe hat neben der Fotografin eine große Kollegin Platz genommen: Die 78-jährige Barbara Klemm erweist ihre Referenz.
Und eine Frau ist gekommen, die großen Anteil an der Wiederentdeckung von Inge Werth besitzt: die Frankfurter Galeristin Karin Beuslein. Sie hatte in ihrer Galerie „Das Bilderhaus“ im Frankfurter Nordend vor Jahren schon kleinere Ausstellungen der Fotografin gezeigt.
Darunter waren zum Beispiel Bilder von Besuchen in Kuba. Viola Hildebrand-Schat vom Kunstgeschichtlichen Institut der Goethe-Universität ist die Kuratorin der Ausstellung im Museum Giersch. Und sie hält fest, dass hier „nur ein kleiner Teil des Gesamtwerkes von Inge Werth“ zu sehen sei.
2017 hatte sie die Fotografin in ihrem kleinen Fachwerkhaus im östlichen Hessen besucht. Und dort begonnen, Tausende von vorher nie gezeigten Arbeiten zu sichten. 125 davon haben den Weg in die Ausstellungsräume gefunden.