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Psychologische Hilfe für Geflüchtete: Sorgen und Ängste bewältigen

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Von: Timur Tinç

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Ein Teil des Teams der Beratungsstelle: Alla Tyschenko (v.l.), Antonina Cherniak, Ulrich Stangier und Annica Nicolai.
Ein Teil des Teams der Beratungsstelle: Alla Tyschenko (v.l.), Antonina Cherniak, Ulrich Stangier und Annica Nicolai. © Peter Jülich

Die psychosoziale Beratungsstelle für Flüchtlinge der Goethe-Universität Frankfurt bietet seit Kriegsausbruch Menschen aus der Ukraine Hilfe an. Die Beratungstelle wurde 2016 gegründet und hat kulturell, adaptierte Verhaltenstherapie für Menschen mit Fluchterfahrung entwickelt.

Sie haben Alpträume, Panikattacken. Sie sind ruhelos, gereizt, haben Angst und vor allem große Sorgen. So beschreiben ukrainische Frauen Antonina Cherniak ihren Gemütszustand am Telefon. Die 31-Jährige studiert Psychologie im vierten Semester an der Frankfurter Goethe-Universität. Sie ist eine von vier Studentinnen, die seit knapp vier Wochen bei der psychosozialen Beratungsstelle für Flüchtlinge der Universität an der Hotline sitzt, um Geflüchteten aus der Ukraine zu helfen. Außerdem übersetzen sie Therapiematerialien ins Ukrainische. „Die Klientinnen nehmen mit uns den ersten Kontakt auf, dann vereinbaren wir Termine“, sagt Cherniak. Bis vergangene Woche waren es zwar erst vier Anrufe, aber in der Beratungsstelle geht man davon aus, dass es demnächst deutlich mehr werden.

„Sie dürfen keine Beratung machen, auch wenn sie es sehr gut könnten“, betont Ulrich Stangier, Lehrstuhlinhaber für Klinische Psychologie und Psychotherapie. Dies ist ausgebildeten oder sich in Ausbildung befindenden Psychologinnen und Psychologen vorbehalten. Die Beratungsstelle für Geflüchtete ist 2016 eingerichtet worden, als viele Menschen aus Syrien, Afghanistan, dem Irak oder anderen Ländern nach Deutschland kamen. Daraus ist ein großes Forschungsprojekt entstanden zum Thema kulturell adaptierte Verhaltenstherapie für Menschen mit Fluchterfahrung. In der Beratungsstelle werden Gruppentherapien angeboten, um Flucht, Verfolgung, Folter und die Schrecken des Kriegs zu verarbeiten.

„Uns war klar: Wenn es Krieg in der Ukraine gibt, wird es die nächste Flüchtlingsbewegung geben“, sagt Stangier, der sich kürzlich mit Bürgermeisterin Nargess Eskandari-Grünberg getroffen hat, um Kooperationsmöglichkeiten mit der Stadt zu erörtern. Dank des Stifterehepaars Elmar und Ellis Reiss sowie der polytechnischen Gesellschaft konnte das Projekt für die Ukraine-Hilfe auch finanziell schnell auf die Beine gestellt werden. Die Federführung hat Anica Nicolai. Sie ist psychologische Psychotherapeutin in Ausbildung und kennt die Arbeit mit Geflüchteten aus dem Forschungsprojekt. Sie hat auch schon erste Gespräche mit Geflüchteten aus der Ukraine geführt. Auf Englisch, bei Bedarf wird eine Dolmetscherin oder ein Dolmetscher hinzugezogen.

Die Telefonsprechstunde

Die Telefonsprechstunde der psychosozialen Beratungsstelle für Flüchtlinge der Goethe-Universität Frankfurt für Geflüchtete aus der Ukraine ist montags: 09.30 – 11 Uhr, dienstags von 12 bis 13:30 Uhr und donnerstags von 10 bis 12 Uhr. Telefon: 06979825366.

www.psychologie.uni-frankfurt.de

„Ich habe die Erfahrung gemacht, dass das offene Ohr eine Riesenentlastung ist“, sagt die 26-Jährige. Eventuell ergibt sich schon im ersten Gespräch eine Einordnung, um zu schauen, welcher Unterstützung es genau bedarf. „Wir haben den großen Vorteil, dass wir nicht nur psychologische Beratung machen können, sondern auch eine Sozialarbeiterin haben, die bei sozialen Fragen unterstützen kann“, erzählt Nicolai - sei es die Wohnsituation, seien es Behördengänge zu Ämtern. In jedem Gespräch werden Ziele formuliert, werde das Anliegen der Menschen abgefragt. „In der Beratung müssen wir überlegen, an welchem Punkt wäre eine längerfristige Therapie notwendig oder gibt es vielleicht etwas anderes, was sinnvoller ist“, sagt Nicolai.

Es geht oft um Depressionen

„Die Geflüchteten haben das Privileg, dass wir uns darum kümmern, dass wir ihnen im Haus weiterführende Psychotherapien vermitteln und dass damit gewährleistet ist, dass wir unbürokratisch sind“, ergänzt Stangier. In der Beratungsstelle gäbe es mehr spezialisierte Therapeut:innen als bei den niedergelassenen. Auch die Ausbildung in dem Bereich sei ein Alleinstellungsmerkmal am Zentrum der Psychotherapie der Goethe-Universität, wo 60 Therapeutinnen und Therapeuten beschäftigt sind.

„Ein großes Vorurteil auf dem Gebiet ist, dass es immer nur um Trauma gehen würde“, sagt Stangier. Häufiger seien es Depressionen, weil einem der Boden unter den Füßen weggezogen wird und man keine Perspektive mehr sieht. Das sei eine der ersten Erkenntnisse gewesen, die man nach 2015 gesammelt habe. „Es drängt sich mit der Zeit auch die Erinnerung an die Vergangenheit auf, Geflüchtete müssen gleichzeitig die Probleme der Gegenwart bewältigen. Der Ungewissheit ausgeliefert zu sein, verursacht Angst und Depressionen und weniger posttraumatische Belastungsstörung“, erklärt der Diplom-Psychologe.

Zumindest sei das die Situation der Geflüchteten, die schon seit einigen Wochen da sind und die Angst um die eigene Existenz, die Kinder und die Männer haben. „Es gibt eine große Ziellosigkeit“, sagt Stangier. Je länger der Krieg dauere, desto mehr Menschen mit anderen Belastungen würden kommen, gibt er zu bedenken. Bei den Geflüchteten, die seit 2015 kamen, seien die Schicksale so heftig gewesen, dass einige Berater:innen dies kaum ausgehalten hätten.

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