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Notruf nicht ernst genommen

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Von: Stefan Behr

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Prozess gegen zwei Helfer, die bei 13-Jähriger drohenden Zuckerschock nicht erkannten

Es hätte schlimmer kommen können am 3. März 2021. Aber nicht viel. Das wird am Dienstagmorgen am Amtsgericht schon bei Verlesung der Anklage klar, die zwei 48 und 49 Jahre alten Rettungssanitätern fahrlässige Körperverletzung vorwirft.

Die damals gerade 13 Jahre alte Melanie (Name geändert) aus einem nordhessischen Dorf ist zu Besuch bei ihrer Tante, die in Frankfurt auf dem Riedberg wohnt. Es ist Corona-Hochsaison, und Homeschooling macht so einen Besuch auch außerhalb der Ferien möglich. Schon die Tage davor fühlt Melanie sich nicht allzu wohl, am Vorabend erbricht sie sich, am Morgen des 3. März kommen noch Herzrasen und Atembeschwerden dazu. Die Tante wählt den Notruf.

Laut Anklage nehmen die Herbeigerufenen den Fall nicht recht ernst. Sie erklären der Tante, wenn auch in weniger drastischen Worten, man habe schon Pferde kotzen sehen, die junge Frau solle sich mal „beruhigen und langsam atmen“. Ohne die Patientin laut Tante zu berühren oder nur in ihre Nähe zu kommen, diagnostizieren sie, dass „kein akuter Notfall“ vorliege.

Das sieht die Kinderärztin, zu der die verzweifelte Tante das Kind daraufhin bringt, völlig anders. Die merkt sofort, dass Melanie einen dezenten Duft von Aceton verströmt - ein Alarmzeichen bei Diabetes. Im Krankenhaus zeigt sich, dass die 13-Jährige tatsächlich kurz vor einem Zuckerschock steht und „in akuter Lebensgefahr“ schwebt. Sie landet auf der Intensivstation und wird zwölf Tage lang stationär behandelt.

Die beiden Angeklagten verneinen jeglichen Schlendrian. Natürlich habe man die Patientin „abgehört und abgetastet“, allerdings kein Aceton gerochen, was auch an den Schutzmasken gelegen haben könnte, welche beide trugen. Sie hätten auch angeboten, einen Blutzuckertest zu machen, was abgelehnt worden sei, und nach Vorerkrankungen gefragt, die verneint worden seien. Allerdings wusste Melanie bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass sie an Diabetes erkrankt war - als erste in ihrer Familie. Sie hätten auch angeboten, die Patientin ins Krankenhaus zu fahren - was Melanie und ihre Tante aber nicht gewollt hätten.

Die heute 41 Jahre alte Tante hat den Tag ganz anders erlebt, wie sie sagt. Um 9.17 Uhr, das zeigten auch ihre Handydaten, habe sie den Notruf gewählt. Und nochmal um 9.37 Uhr, um zu fragen, warum niemand komme. Ach so, ein Notfall, das habe man ja nicht ahnen können, habe man ihr gesagt, und Kollegen kämen gleich. Als die dann um 9.50 Uhr eingetroffen seien, hätten sie keinerlei Untersuchungen durchgeführt und eine Fahrt ins Krankenhaus explizit verweigert. Unter anderem mit der Begründung, sie sei ja „nur die Tante“, und ohne Erziehungsberechtigten würde die Patientin dort ohnehin nur behandlungslos zwischengelagert, bis ein solcher auftauche. Dann hätten die beiden ihr für die Fahrt zur Kinderärztin „zwei Kotztüten in die Hand gedrückt“ und sich verabschiedet. „Ich bin nicht in böser Absicht hier“, sagt die Tante unter Tränen. „Fehler darf man machen“, alle machten die, „aber da ruft ein Kind um Hilfe, und die beiden machen einfach nichts!“

Die Aussagen der Tante werden von Melanie bestätigt, die aber selbst anmerkt, in diesem Moment vor Schmerzen nicht ganz bei sich gewesen zu sein. Das Bewusstsein hatte sie damals erst auf dem Weg ins Krankenhaus verloren.

Es ist fatal. Die beiden Sanitäter, die daran erinnern, dass man diesen Beruf nicht ergreife, wenn einem Menschenleben egal seien, wirken durchaus glaubwürdig. Aber Tante und Nichte tun es nicht minder. Nach einem Rechtsgespräch einigen sich Richterin, Staatsanwältin und Verteidigung auf eine vorläufige Einstellung des Prozesses wegen geringer Schuld. Die Sanitäter müssen einen eher symbolischen Betrag von je 250 Euro an Melanie zahlen. Beide entschuldigen sich. „Der Einsatz ist dumm gelaufen“, sagt der eine, und dem anderen tut’s auch leid. Es hätte schlimmer kommen können.

Ein Urteil wird dann aber doch noch gesprochen, und zwar von der Tante. Einer der Verteidiger wundert sich, dass sie die Behauptung, kranke Kinder würden ohne Begleitung ihrer Eltern im Krankenhaus zum Sterben in der Besenkammer abgestellt, so hingenommen haben wolle. „Ist denn das deutsche Gesundheitssystem so schlecht, dass man so etwas glaubt?“ Die Antwort der Tante ist kurz, ihr Urteil hart, aber leider gerecht: „Ja!“

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