„Meine Heimat ist Frankfurt“

Sener Sargut war einer der ersten Türken in der Stadt. Der 79-Jährige hat die Höhen und Tiefen der deutsch-türkischen Beziehungen miterlebt und sich in verschiedenen Positionen für das gemeinsame Zusammenleben engagiert.
Sener Sargut hat sich die Anekdote bis zum Schluss aufgehoben. Sie geht so: Es war Anfang der 1960er Jahre, kurz nach seiner Ankunft in Frankfurt. Der junge Student aus der Türkei war in eine Kneipe in Alt-Sachsenhausen gegangen, da wo die Deutschen ein bisschen anders, fröhlicher waren als die griesgrämigen Menschen, die er tagsüber in der noch vom Krieg gezeichneten Stadt sah. In den Wirtschaften im Brückenviertel hat er Lieder wie „Wenn die Elisabeth nicht so schöne Beine hätt“ gelernt und kann deren Texte heute noch.
In einer Kneipe sprach ihn an jenem Tag ein junger Mann an: „Hey, Primitiver“. Sargut wusste nicht, was das Wort bedeutet, und lächelte dem Mann nur zu. Dieser sagte immer wieder: „Hey, Primitiver, komm!“ Später schlug er in seiner Wohnung in der Kaiserstraße im Bahnhofsviertel das Wörterbuch auf und entdeckte, als was er da bezeichnet worden war. „Danach habe ich nie wieder jemandem geantwortet, wenn ich das Wort nicht verstanden habe.“
Es ist eine bittere Erinnerung des heute 79-Jährigen an seine Anfangszeit in Deutschland. Es sollte – zumindest auf der persönlichen Ebene – eine Ausnahme bleiben, auch wenn die Deutschen ihm zwar mit einer gewissen Neugier, aber auch Überheblichkeit begegneten. Heute sagt er: „Wenn die Deutschen heute über die Türken schimpfen, fühle ich mich türkisch. Wenn die Türken über die Deutschen schimpfen, fühle ich mich deutsch.“ Fast 60 Jahre lebt Sargut nun schon in Frankfurt und hat alle Höhen und Tiefen des Zusammenlebens zwischen Türken und Deutschen, aber auch innerhalb der eigenen Community miterlebt. Er war viele Jahre lang stellvertretender Vorsitzender der Türkischen Gemeinde in Deutschland und hat sich als Fachbereichsleiter an Frankfurts Volkshochschule (VHS) als Integrationsbeauftragter für die Verständigung der Kulturen eingesetzt. Erst waren es die Italiener, die Itaker genannt wurden. Dann kamen die Jugoslawen, die als Jugos abgestempelt wurden. Und dann wurden die Türken zum Feindbild, erinnert sich Sargut.
Er war im Oktober 1959 nach einer 54-stündigen Zugfahrt aus Istanbul in Frankfurt angekommen. An der damaligen Technischen Hochschule Darmstadt studierte er Bauingenieurwesen. Er gehört zwar zeitlich zur Generation der Gastarbeiter, war aber nie einer von ihnen. Er ist überzeugt: Ohne die vielen Arbeiter aus dem Ausland wäre Deutschland nicht da, wo es heute steht. Das Anwerbeabkommen mit der Türkei vom 30. Oktober 1961 habe für beide Länder Vorteile gehabt. „Ich fand es schön, dass mehr meiner Landsleute in Deutschland waren“, meint Sargut, der im Stadtteil Bornheim lebt.
Geboren wurde er in der mazedonischen Hauptstadt Skopje. Als sein Vater, ein Buchhalter für Baufirmen, in die türkische Armee einberufen wurde, zog die Familie nach Istanbul. „Mein Vater wollte, dass ich und meine zwei Brüder im Ausland studieren, um Verbindungen überall in die Welt zu haben“, erzählt Sargut, der auch eine ältere Schwester hatte. Sein älterer Bruder ging in die USA, sein jüngerer Bruder hielt es später nur ein Jahr in Deutschland aus. Sargut hingegen blieb und sah täglich viele Ausländer:innen am Frankfurter Hauptbahnhof ankommen. „Niemand wurde willkommen geheißen. Sie mussten selbst klarkommen“, erzählt er. Es habe ihm wehgetan zu sehen, wie die Gastarbeiter unter Druck gesetzt worden sind. Wenn sie sich wegen zu wenig Lohn beklagten, wurden sie sofort wieder in ihre Heimat zurückgeschickt. Also hielten vor allem seine türkischen Landsleute lieber den Mund und blieben in ihren Baracken unter sich.
Er selbst hat die deutsche Sprache sehr schnell gelernt. „Es gab maximal 20 Türken in der Stadt, als ich ankam; da musste ich Deutsch sprechen“, sagt er. Er arbeitete nach seinem Studium als Ingenieur und Zeichner und zwei Jahre lang im türkischen Konsulat als Dolmetscher. Er heiratete eine Deutsche, wurde dann zum zweijährigen Militärdienst einberufen. Den leistete er als Dorflehrer, wo er pro Schuljahr nur vier Monate arbeiten musste. Die restliche Zeit war er als Chefdolmetscher bei der Vermittlungsstelle der Bundesagentur für Arbeit in Istanbul angestellt, die Gastarbeiter:innen warb. „Meine Frau wollte nach meiner Zeit beim Militär in der Türkei studieren, aber ihr Türkisch, das gut war, reichte dafür nicht. Also kamen wir nach Frankfurt zurück.“
Hier begann er, an der Goethe-Universität Erziehungswissenschaften zu studieren. Es habe kaum Leute gegeben, die den Menschen in den sozialen Fragen helfen konnten, die beide Gesellschaften kannten und gut Deutsch sprachen, erklärte er seine Motivation. Er wollte sich engagieren und begann 1971, bei der VHS zu arbeiten. „Wir waren Vorreiter bei der sozialen Integration“, sagt Sargut. Kurz darauf kam das ZDF auf ihn zu und fragte, ob er bei einer Sendung helfen könne. „Es sollte ein Beitrag sein, damit sich die Menschen ein Stück in Deutschland anpassen“, berichtet Sargut. In sechs Sprachen sollten Nachrichten aus den Heimatländern der Gastarbeiter:innen berichtet und über Themen gesprochen werden, wie man sich in Deutschland zurechtfindet. So wurde Sargut von 1972 bis 1989 einer der Nachrichtensprecher der Sendung, die mit dem Titel „Briefe aus der Türkei“ an den Start gegangen war. Alle zwei Wochen war sie samstags im Fernsehen zu sehen.
Das politische Geschehen in der Türkei war in den 1970er Jahren geprägt von den blutigen Auseinandersetzungen zwischen Linken und Rechten, die bis zum Militärputsch 1980 anhielten. Sargut trat in die SPD ein und verzichtete in dieser Zeit aus Angst vor Repressionen auf eine Einreise in die Türkei. Mit dem Anwerbestopp der Bundesregierung im Jahr 1973 holten viele Türken ihre Familien vor allem aus den ländlichen Regionen nach. Damit stiegen auch die Ressentiments. „Dass die Türken in so einer Form diskriminiert wurden, lag an der Gewissenlosigkeit von Helmut Kohl und der CDU. Es gab keine Schmutzigkeit, die sie nicht ausgelassen haben“, findet Sargut und nennt als Beispiel die Rückkehrprämie für türkische Bürger.
Die Mordanschläge in Mölln 1992 und Solingen 1993 versetzten die Türken in Deutschland in Aufruhr. An der Goethe-Universität versammelten sich rund 400 Leute und wollten etwas unternehmen, erinnert sich Sargut. „Aus allen unterschiedlichen Lagern, selbst die Milli-Görüs-Leute, die ich nicht mag, waren dabei.“ Es wurde die Türkische Gemeinde Rhein-Main gegründet. Die Einigkeit war aber nur von kurzer Dauer: Nachdem die zwei Mordanschläge gegen Türken die Türken in Deutschland zusammengebracht hatten, deckte der Brandanschlag in der anatolischen Stadt Sivas am 2. Juli 1993, bei dem 37 Personen meist alevitischen Glaubens starben, die Konflikte zwischen dem linken und dem rechten Lager wieder auf.
Die Milli-Görüs-Leute, die Anhänger vom späteren Staatspräsidenten Necmettin Erbakan, dem Ziehvater von Recep Tayyip Erdogan, zogen sich aus der TGD zurück. Auf Bundesebene wurde 1995 die Türkische Gemeinde Deutschland gegründet, deren stellvertretender Vorsitzender Sargut wurde und lange Jahre blieb. Die Auseinandersetzungen zwischen der türkischen Armee mit der Terrororganisation PKK schwappten nach Deutschland und sorgten erneut dafür, dass die Türken mit Argwohn betrachtet wurden. „Ende der 90er Jahre hat es sich langsam beruhigt. Dann kam Erdogan“, sagt Sargut. Das habe das Klima zwischen Deutschen und Türken noch einmal belastet und die Türken untereinander in den Folgejahren zutiefst gespalten.
Eine persönliche Belastungsprobe erlebte Sargut, als ihm 1997 von der VHS wegen Betrugs und Untreue fristlos gekündigt wurde. Nach vier Jahre langem Rechtsstreit wurde er rehabilitiert und musste zu vollen Bezügen rückwirkend wieder eingestellt werden. „Es gab den Versuch, mich auszuschalten“, sagt er. Es habe sich aber gelohnt zu kämpfen.
In den vergangenen Jahren habe sich in der Gesellschaft einiges zum Guten verändert, findet Sargut, der in zweiter Ehe erneut mit einer Deutschen verheiratet ist, zwei Kinder und Enkel hat. Während Helmut Kohl seinerzeit nicht nach Mölln und Solingen fahren wollte, um an den Trauerfeiern teilzunehmen, seien nach dem Anschlag in Hanau sowohl Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier als auch der Hessische Ministerpräsident Volker Bouffier gekommen. Dass es die AfD gibt, findet Sargut sogar in gewisser Weise gut. So würden fremdenfeindliche Menschen offen ihr Gesicht zeigen und könnten sich nicht mehr hinter einer großen Partei wie der CDU verstecken, die sonst die AfD-Stimmen erhalten würde.
Sener Sargut hat immer seinen türkischen Pass behalten, weil es für ihn nie die Möglichkeit gegeben hat, die doppelte Staatsbürgerschaft zu bekommen. Fast jedes Jahr fährt er für zwei Monate nach Kusadasi an die türkische Ägäisküste. „Meine Heimat ist aber hier in Frankfurt.“ Emotional, sagt er, sei er immer Türke geblieben. Wenn es darum gehe, rational zu sein, habe er sich jedoch vieles von den Deutschen angeeignet.


