Nicht im Elfenbeinturm

Die Lyrikerin Ulrike Almut Sandig erhält den Horst-Bingel-Preis.
Es ist eine fröhliche Zusammenkunft von Literaturenthusiasten. Und mittendrin im Getümmel ein glücklicher Wolfgang Schopf. Der umtriebige Leiter des Literaturarchivs der Frankfurter Goethe-Universität ist nicht nur der Hüter von 300 000 Sammlungsobjekten, Manuskripten, Autorennachlässen, Briefen, Fotografien, Autographen und Erinnerungsstücken. Nein, der 52-Jährige hat das Haus Dantestraße 9 nahe der Frankfurter Universität seit 2011 auch zu einem neuen Treffpunkt und Veranstaltungsort der Literaturszene ausgebaut. An diesem Abend gilt es, eine ganz besondere Lyrikerin zu feiern. Ulrike Almut Sandig erhält den Horst-Bingel-Preis für Literatur.
Er hält die Erinnerung wach an den Frankfurter Autor Bingel, der 2008 starb und in den 70er Jahren Vorsitzender des Verbandes Deutscher Schriftsteller war. Neben Prosa schrieb er Gedichte. Die Arbeiten von Ulrike Almut Sandig freilich, das zeigt auch der Abend wieder, heben die Lyrik auf eine neue Stufe. Denn die 39-Jährige inszeniert ihre Gedichte, sie trägt sie nicht einfach vor, nein, sie singt und schreit ihre Texte, kombiniert sie auf mehreren Tonspuren, gibt ihnen den Takt des Rap. Begleitet von Musik. Die Poesie der Pfarrerstochter erzeugt einen ganz eigenen Sog, lässt den Hörer versinken in ihrer Welt. In der die Natur, die Tiere Bilder von besonderer Qualität schaffen.
Amalgam von Pop und Punk
Die Laudatorin, die Germanistin Heike Bartel von der University of Nottingham, bescheinigt der Preisträgerin denn auch eine „aufregende Arbeitsweise“, ihre Texte „stehen nie still und damit fest, dieses Ich ist ständig in Bewegung, auf rasanten Reisen durch Zeit und Raum“. So entsteht in der Tat ein Amalgam von Pop, Punk, Hip-Hop und Rap. „Sandigs Gedichte bleiben nicht im Turm, auch nicht im elfenbeinernen“, urteilt Bartel. Ihre Liveperformance bedeute das Gegenteil von einer elitären Kunstform.
Aber ach, es ist ein armer Tropf, wer nur auf die Beschreibung eines Sandig-Auftritts angewiesen ist und ihn nicht selbst erlebt. Als sie zu schreiben begonnen hatte, klebte sie ihre Texte zunächst an Bauzäune, um sie bekanntzumachen. Dann verschickte sie Gratispostkarten. Doch bald sprach sich ihr Talent herum. Seit Jahren wird sie liebevoll vom Frankfurter Schöffling-Verlag betreut, dessen Inhaber Klaus Schöffling lächelnd aus der letzten Reihe den Auftritt verfolgt.
„Schlauraffenland, wir haben uns in deinen Einkaufszentren verlaufen, sie gleichen einander aufs Haar“, heißt es in einem Spottgedicht, das mit den Worten „Guten Abend, Deutschland“ beginnt. Die frühere Stadtschreiberin von Sydney kann aber auch voll Ironie auf die Suche nach dem Süden gehen, den sie auch in Australien nicht findet („South“).
Doch an diesem Abend trägt sie auch „mein dunkelstes Gedicht“ vor, die „Ballade von der Abschaffung der Nacht“, eine düstere Beschwörung der Foltermethoden, mit denen die US Army in aller Welt zu Werke geht.
Wer also Sandig erlebt, dem muss um die Zukunft der Lyrik nicht bange sein, um die es ja angeblich so schlecht steht. In ihren Liveauftritten, oft gemeinsam mit dem ukrainischen Musiker Grigory Semenchuk als „Bandprojekt“, beweist sie das Gegenteil.
Vereinnahmen lässt sie sich nicht. Im Poem „Meine Heimat“ heißt es: „In der Heimat brechen sich Namen an der Scholle, im Wort: Was dort angebaut wird, ist mir fremd.“ In ihrer Würdigung kommt die Jury des mit 8000 Euro dotierten Bingelpreises zu dem Urteil: „Sie wagt im Gedicht viel, sie gewinnt alles“.