Liebe auf den zweiten Blick

Die FR veröffentlicht einen Textauszug aus dem neuen Buch "Frankfurt für Anfänger" von Matthias Arning.
Frankfurt für Anfänger“, heißt das neue Buch des früheren FR-Lokalchefs Matthias Arning, das in der kommenden Woche in der Edition Frankfurter Ansichten erscheint. Die FR veröffentlicht einen Textauszug.
Die Mär vom öden Ort hält sich hartnäckig: „Frankfurt ist halb so groß und doppelt so tot wie der Friedhof von Manhattan“, macht es in London nach dem Brexit-Referendum bösartig die Runde. Ein längst überwunden geglaubtes Klischee über die Stadt am Main lebt plötzlich wieder auf.
Zugegeben: Die enorme Lebensqualität von Frankfurt erschließt sich erst auf den zweiten Blick. Dem, der sich auf die Stadt einlässt. Hierbleibt. Meist gezwungenermaßen. Denn wer zieht schon freiwillig nach Frankfurt am Main – so wie man nach Berlin geht oder sich in München niederlässt? Nach Frankfurt am Main kommt man aus Zufall oder um Geld zu verdienen. So unromantisch fängt es an.
Doch ist der erste Schock überwunden, spüren die meisten: In der Stadt am Main kann man nicht nur arbeiten, sondern auch leben. Und weinen Frankfurt plötzlich Krokodilstränen nach, wenn die nächste Versetzung ansteht. Denn Frankfurt ist längst nicht mehr „unbewohnbar wie der Mond“. Es ist überschaubar. Eine Stadt der kurzen Wege. Grün. Familienfreundlich. Liebenswert. Frankfurt – das ist Liebe auf den zweiten Blick.
Die Stadt in der Mitte Europas. Ein Sternpunkt. Ein Ort, an dem alle Wege zusammenlaufen. Sinnbildlich steht dafür das Frankfurter Kreuz. Der Rhein-Main-Flughafen. Der größte Internet-Knotenpunkt der Welt.
Frankfurt ist eine Stadt, die viele nur vom Vorbeifahren kennen: Autobahn A 5, Bürostadt Niederrad, ein Monument des Grauens. Dauert mit dem Auto keine Minute. Frankfurt am Main, sagen viele Vorbeieilende voll Mitleid in der Stimme. Wenn sie überhaupt etwas sagen, denn schnell ist man vorbei an Frankfurt.
Spätestens am Gambacher Kreuz spricht kaum noch einer darüber. Es sei denn, es ist Abend und die Skyline leuchtet herüber. Dann bekommen die Bankentürme etwas Glamouröses. Und das Herz des gemeinen Frankfurters hopst. „Mainhattan“, seufzt er dann gern. Das ist durchaus liebevoll gemeint, aber natürlich ziemlich unsinnig – wie vieles, was aus Liebe geschieht. Doch eine Portion Größenwahn ist dem bekennenden Frankfurter ohnehin zu eigen. Seltsamerweise gepaart mit einem ausgeprägten Sinn fürs Reelle. Kein Geschwafel. Der Frankfurter ist handfest. (...)Frankfurt ist nichts, was einem in den Schoß fällt. Frankfurt muss man sich erobern. Muss sich daran gewöhnen, wie an den ersten Handkäs – auch diese Frankfurter Spezialität: eher Liebe auf den zweiten Biss. (...)
Eigentlich spricht nichts mehr dagegen, von Frankfurt am Main zu schwärmen. Viele wollen jetzt nach Frankfurt. Nicht zuletzt die Brexit-vertriebenen Londoner. Fachleute rechnen damit, dass es einige tausend Banker sein werden, die von der Insel aus in Richtung Festland aufbrechen, nicht etwa nach Paris, sondern in die Region Rhein-Main. Ins gelobte Land sozusagen, genauer gesagt: nach Frankfurt.
Das konnte sich noch in den 70er Jahren kein Mensch vorstellen. Damals hieß es, aus den Trümmern des Kriegs sei hier die amerikanischste Stadt außerhalb der USA entstanden. Das klang so, als wollten sich die Frankfurter damit selbst trösten. Der eigenwillige Superlativ stand für „modern“. Inzwischen ist das US-Militär abgezogen und aus dem Headquarter Eisenhowers an zentraler Stelle der Stadt im früheren IG-Farben-Haus ist mittlerweile das Entrée der Goethe-Universität geworden. Ohne Übertreibung der Eingang zum schönsten Uni-Campus Deutschlands.
Frankfurt ist längst nicht mehr Igitt, sondern an vielen Ecken aus Sandstein. Und spätestens, wenn sich die Frage eines Wegzugs stellt, sagen viele, das komme eigentlich gar nicht in Frage. Die Menschen wollen bleiben. (...)
Früher stand Frankfurt für intellektuelle Klasse: Adorno, Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, Habermas – alles vorbei. Wirklich? An der Goethe-Universität wird der kritische Diskurs tapfer hochgehalten, gilt der interdisziplinäre Forschungsverbund „Normative Ordnungen“ weiter als Vorzeigeprojekt für den Wandel der Herrschaft.
Frankfurt bietet Geschichten. Viele kleine Geschichten. Von sieben Kräutern, die zur Grünen Soße gehören. Vom Grab der Mutter Goethes, das sich unweit eines Basketballkorbs auf dem Pausenhof einer Innenstadt-Schule versteckt. Von der schwangeren Germania auf dem Wandgemälde der Paulskirchen-Rotunde. Und von der japanischen Konditorin, die unweit des Doms grüne Tee-Schnitten und den weltbesten New-York-Cheese-Cake anbietet.
Bei aller Internationalität zeichnet sich die Stadt vor allem dadurch aus, überschaubar geblieben zu sein. Frankfurt hat sich nicht zu einem unübersichtlichen Moloch entwickelt. Dazu ist die Stadt viel zu klein. Frankfurt ist eine überschaubare Metropole der kurzen Wege. Daher gerade bei Radfahrern ausgesprochen beliebt. Wenngleich die Stadt sich noch immer nicht dazu durchringen kann, die Pendler-SUVs beherzt aus der Stadt zu verbannen und den Pedalisten konsequent Vorfahrt zu gewähren. (...)
Dabei hat Frankfurt nicht nur in der Kultur den Anspruch, für „Alle“ da zu sein. Nicht zufällig wurde in Frankfurt das erste Amt für multikulturelle Angelegenheiten geschaffen, wird der kritische Diskurs nicht allein an samstäglichen Vormittagen beim Ebbelwei-Trubel an der „Konstabler“ und beim weltbesten Cappuccino in der Kleinmarkthalle hochgehalten. Der Bewohner der Stadt am Main liebt es, seine ganz eigenen Ansichten zum Zustand der Republik im Allgemeinen und den örtlichen Honoratioren im Besonderen kundzutun. Frankfurter Ansichten eben.