„Im Straßenverkehr fehlt es zu oft an Rücksicht“

Mehr Autos, Räder und Menschen zu Fuß auf engem Raum und eine angespannte Grundstimmung sieht Verkehrsexperte Jürgen Follmann als ein Defizit im Straßenverkehr
Herr Professor Follmann, wo kochen die Emotionen im Straßenverkehr hoch?
Es geht viel um Respekt. Wir haben einen begrenzten Raum, und den müssen wir teilen. Es gibt drei große Problemfelder: Radfahrer:innen benutzen immer selbstbewusster die Straßen. Die Autofahrer:innen kennen das nicht und sind frustriert. Das andere Problemfeld sind die Gehwege. Dort gibt es Probleme zwischen Radverkehr und Fußverkehr. Beide brauchen Platz, um sich fortzubewegen. Doch der ist begrenzt. Und manchmal belegen den Platz auch die Autos – zum Parken zum Beispiel –, woraus sich das dritte Problemfeld ergibt. Autos wurden lange Zeit überall geduldet. Jetzt ist eine Zeit der Veränderung, und vieles kocht hoch.
Haben Sie ein Beispiel dafür?
Ende März ist es auf der Schloßstraße in Frankfurt zu einem Streit zwischen Radfahrer und Autofahrer gekommen. Der Grund war ein Überholvorgang des Autofahrers. Das wurde vergangenes Jahr verboten. Der Radfahrer stellte wohl den Autofahrer zur Rede, und es kam zum Streit zwischen dem ausrastenden Autofahrer und heftigen Folgen für den Radfahrer. Der Vorfall weist vielleicht ein bisschen auch auf Defizite im gesellschaftlichen Miteinander hin: Im Straßenverkehr fehlt es zu oft an Rücksichtnahme und am gegenseitigen aufeinander Aufpassen.
Also gibt es dort Aggressionen, wo Verkehrsteilnehmer:innen aufeinander treffen?
Die Gesellschaft wandelt sich. Beispiel: Auf der Straße nimmt man etwas weg, etwa den Parkplatz am Straßenrand oder den Fahrstreifen und gibt ihn dem Radverkehr. Das sorgt für Frust bei denen, für die dies in der Vergangenheit von Vorteil war. Bei diesen Änderungen müssen wir sehen, dass wir alle Menschen mitnehmen und den Wandel verständlich machen. Wir dürfen solche Vorfälle wie in der Schloßstraße aber nicht verallgemeinern: Es sind vielleicht zehn Prozent der Verkehrsteilnehmer, die ein Problem sind. Das hatten wir schon immer.
An der Unfallstatistik kann man die Aggressionen jedoch nicht ablesen. Die Zahlen sind – mit Ausnahme der Pandemie – wenig verändert. Woran machen Sie die gestiegene Aggressivität auf der Straße fest?
Zur Person
Jürgen Follmann ist Professor und Dekan im Fachbereich Bau- und Umweltingenieurwesen der Hochschule Darmstadt. Sein Forschungsschwerpunkt ist das Verkehrswesen.
Gestiegene Aggressivität ist schwer festzumachen. Vielleicht sind es eher Indikatoren wie Geschwindigkeit und Abstand. Eine Unfallstatistik ist rückblickend. Sie zählt zwar die Unfälle, aber wir können daraus nicht so einfach ablesen, ob der Unfall wegen eines Streits passiert ist. Was uns die Statistik sagen kann, ist, dass es mehr Radunfälle gibt und mehr Schwerverletzte. Beispielsweise stieg in 2022 nach Angaben des Statistischen Bundesamtes die Anzahl der mit dem Pedelec tödlich Verunglückten mit zusätzlichen 75 Getöteten besonders stark an. Bei Fahrrädern ohne Hilfsmotor stieg die Anzahl um 31. Aber auch die Zahl der im Straßenverkehr getöteten Fußgängerinnen und Fußgänger erhöhte sich um 32.
Warum ist das so?
Wir haben deutlich mehr Radverkehr, und die hierzu passende veränderte Aufteilung der Straßenräume hinkt hinterher. In Darmstadt liegen wir aktuell bei knapp 25 Prozent Anteil am Gesamtverkehr auf den Straßen, während der Anteil des Radverkehrs vor Corona bei 18 Prozent lag. In Frankfurt ist dies ähnlich. Zudem haben wir unterschiedlichste Fahrräder: Nehmen wir nur die E-Bikes und Lastenräder, die jetzt zusätzlich als Verkehrsteilnehmer mitmischen. Das bedeutet, es ist viel los auf den schmalen Streifen für Fahrräder. Es wird immer mehr überholt. Und dann sind ja auch noch E– Scooter dazugekommen.
Wie verändern die E-Scooter den städtischen Verkehr?
Sie benutzen auch die Radwege oder fahren auf Gehwegen – letzteres ist nicht erlaubt. E-Scooter werden eigentlich nur in den Großstädten spürbar genutzt. Das größte Ärgernis sind sicherlich die falsch abgestellten E-Scooter, die Gehwege blockieren. Seit 2020 werden sie in der amtlichen Unfallstatistik separat erfasst. Weniger als zwei Prozent der im Straßenverkehr Verunglückten war mit dem E-Scooter unterwegs. Die mit Abstand häufigsten Fehlverhalten bei Unfällen waren laut Statistischem Bundesamt das Fahren unter Alkoholeinfluss und die falsche Benutzung der Fahrbahn oder der Gehwege. Außerdem spielte nicht angepasste Geschwindigkeit eine Rolle.
Wie kommt es dazu, dass wir uns mit der Umverteilung der Straßenräume so schwer tun?
Die Anspannung im Straßenverkehr spiegelt vielleicht auch etwas die Stimmung in der Gesellschaft. Wir gehen gerade mit vielen Unsicherheiten und Herausforderungen durchs Leben. Corona ist vorbei, die Klimakrise rollt auf uns zu, der Krieg in der Ukraine, die Regierungskoalition überzeugt die Gesellschaft nicht – man weiß nicht, wohin es gerade geht. Auch geltende Regelwerke und Gesetze wie die StVO werden nicht den erheblichen Veränderungen gerecht. Es wäre dringend notwendig, den Kommunen endlich flexiblere Möglichkeiten in der Wahl der richtigen Geschwindigkeit zu geben. Gleichmäßigeres, langsameres Fahren erhöht die Akzeptanz untereinander und verringert das Unfallgeschehen. Wir brauchen deutschlandweit Kampagnen und vielleicht auch wieder den 7. Sinn, um die Menschen im Wandel des Verkehrsgeschehens mitzunehmen.