Frankfurts Sozialdezernentin Elke Voitl „Wir dürfen die Stigmatisierung nicht weiter ausbauen“

Frankfurts Sozialdezernentin Elke Voitl (Grüne) spricht im FR Interview über Armut, deren Sichtbarkeit und soziales Engagement.
Seit mehr als drei Monaten hat die Sozialpolitik in Frankfurt ein neues Gesicht: Elke Voitl. Und sie hat damit seit langem auch wieder eine neue Farbe. Wo jahrelang die CDU den Ton angab wird nun grüne Sozialpolitik gemacht. Das Büro der Dezernentin sieht zumindest fast noch genau so aus, wie zuvor. Elke Voitl hat aber den Schreibtisch gewechselt. Höhenverstellbar, damit sie auch im Stehen arbeiten kann. Im Gespräch mit der FR verrät die 52-Jährige, wie sie die Sozialpolitik gestalten will und wo ihr Hauptaugenmerk liegt.
Frau Voitl, wie waren die ersten Wochen in Ihrer neuen Funktion als Sozialdezernentin?
Sehr aufregend. Es war alles sehr neu. Die Hälfte der Mitarbeitenden hier im Dezernat ist neu, das heißt wir müssen uns auch als Team finden. Und der Sozialbereich ist so ein großes Feld. Das bedeutet auf der einen Seite viel Abwechslung, aber auf der anderen Seite auch viele Kennenlerntermine. Es gibt für mich immer noch viel zu tun. Zuhören, wo die Bedarfe sind und erste Perspektiven entwickeln.
Hören Sie nur zu oder geben Sie auch Dinge vor?
Ich möchte natürlich meine Haltung vermitteln. Mir geht es nicht darum das Ganze nur zu verwalten, sondern das soziale Leben in der Stadt zu gestalten. Alle Menschen sollen in Verantwortung genommen werden und es gibt ganz unterschiedliche Möglichkeiten, diese Verantwortung zu übernehmen. Wir wollen das bürgerliche Engagement stärken und Zugänge für Menschen schaffen, die erst mal mit dem Wort Ehrenamt nichts anfangen können und sich nicht darüber definieren, aber aufgeschlossen für alternative Wege sind.
Es gibt ja durchaus noch eine Vielzahl von Menschen, die sich bisher nicht engagieren.
Ich denke auch, dass da noch Potenzial ist und es viele Menschen in der Stadt gibt, die vielleicht nicht in einen Verein passen oder nicht in einer Kirchengemeinde angesiedelt sind, die aber sehr wohl Interesse daran haben, das soziale Leben mitzugestalten. Diesen Menschen möchten wir gerne in einem Projekt in der nächsten Zeit neue Wege und Zugänge aufzeigen.
Sie haben an anderer Stelle auch mal gesagt, dass „Privilegierte ihre Verantwortung für den Zusammenhalt und für unser gemeinsames gesellschaftliches und soziales Leben übernehmen“ sollen. Wie ist das zu verstehen?
Dass wir dafür werben, das soziale Leben in der Stadt zu unterstützen. Viele machen das auch bereits und gestalten das soziale Leben mit. Durch Ehrenamt, das Gründen einer Stiftung oder durch Spenden. Wir müssen letztendlich alle gemeinsam für soziale Gerechtigkeit sorgen, damit die Spannung zwischen Arm und Reich nicht zu groß wird. Jede und jeder in dieser Stadt gehören zur Gesellschaft. Da muss man auch akzeptieren, dass es unterschiedliche Lebensplanungen, Lebensgewohnheiten und Lebenskulturen gibt.
Haben Sie sich denn konkrete Schwerpunkte in Ihrer Arbeit gesetzt?
Zur Person
Elke Voitl ist seit Anfang September die neue Sozialdezernentin der Stadt Frankfurt. Sie hat früher bei einem freien Träger gearbeitet und wechselte dann als Jugendhilfeplanerin ins Jugendamt der Stadt Gießen. In Frankfurt war sie unter anderem Projektleiterin im Fema-Mädchentreff im Frankfurter Stadtteil Griesheim.
2002 wechselte sie ins Frauenreferat der Stadt. 2007 trat sie in die Partei der Grünen ein. Als Parteikollegin Sarah Sorge 2012 den Posten der Bildungs- und Frauendezernentin bekam, wurde Voitl ihre persönliche Referentin. Mit Ablauf der Legislaturperiode 2016 wechselte sie zu Dezernent Stefan Majer (Grüne) und leitete das Dezernatsbüro für Personal und Gesundheit.
Die Grünen-Politikerin wurde am 6. Mai 1969 im östlichen Teil der schwäbischen Alb geboren und wuchs in einem kleinen Dorf auf. Sie schloss zunächst die Realschule ab und besuchte anschließend die Oberstufe eines Gymnasiums in einer 30 Kilometer entfernten Kreisstadt.
Nach Aufenthalten in Kamerun und Irland studierte Voitl schließlich Sozialarbeit mit den Schwerpunkten Kinder- und Jugendhilfe sowie Frauen- und Mädchenpolitik in Frankfurt.
Die 52-Jährige hat einen volljährigen Sohn und wohnt in Frankfurt. mic
Da wäre das Thema Kinderarmut. Dort hoffe ich auch auf Beschlüsse der Ampel-Koalition in Berlin, die dann positive Auswirkungen für uns als Kommune haben. Im Moment sind unglaublich viele bürokratische Hürden da. Die Menschen sollen der Hilfe nicht hinterherrennen, sondern die Hilfe soll zu den Familien kommen. Auch müssen wir wieder einen größeren Sozialraumbezug leben und zu den Menschen gehen und nicht warten bis sie zu uns kommen. Armut meint nicht nur materielle Probleme, sondern auch zu wenig Teilhabe am gesellschaftlichen und kulturellen Leben. Dort müssen wir die Zugänge betrachten und schauen, wie wir Kindern und Jugendlichen diese Teilhabe ermöglichen.
Ein konkretes Problem in diesem Zusammenhang ist der pädagogische Mittagstisch, bei dem Kinder für einen Euro ein warmes Mittagessen bekommen. Einige Träger sagen, dass selbst diese Hürde noch zu hoch ist. Kann man da etwas machen?
Tatsächlich müssen wir uns die Ganztagsmodelle noch mal anschauen, was dort noch fehlt und wie kindgerecht sie sind. Wichtig ist mir, dass wir keine Stigmatisierung ausbauen. Es darf nicht sichtbar werden, welches Kind Unterstützung braucht und welches nicht. Das gilt auch für den Frankfurt-Pass. Den müssen wir so entwickeln, dass er frei wird von Stigmatisierungen. Zudem sollen Maßnahmen ergänzt werden, die den Menschen zusätzlich helfen werden.
Gibt es weitere Schwerpunkte?
Ein weiterer Schwerpunkt ist die Situation im Frankfurter Bahnhofsviertel. Das ist für mich kein reines drogenpolitisches Thema, sondern auch ein sozialpolitisches. Hier gibt es bereits eine enge Kooperation mit den Dezernent:innen Annette Rinn und Stefan Majer um Lösungen zu suchen und Maßnahmen zu planen. Bürgerliches Engagement hatte ich bereits angesprochen. Dort wollen wir den Ansatz der aktiven Nachbarschaft weiter ausbauen. Eine große Herausforderung ist sicherlich auch das Thema Wohnungslosigkeit in Frankfurt. Wir brauchen mehr Wohnungen und mehr Unterkünfte für Geflüchtete, weil ich davon ausgehe, dass die Zahlen wieder ansteigen werden.
Aber neue Wohnungen und Unterkünfte kann Ihr Dezernat auch nicht im Alleingang schaffen.
Das ist definitiv ein Koalitionsthema, das wir nur gemeinsam lösen können. Ich kann nur sagen, dass ich Grundstücke und Flächen brauche.
Welche Gruppen muss Ihr Dezernat aufgrund der Corona-Pandemie nochmals mehr in den Fokus nehmen?
Es ist wichtig zu schauen, was Corona mit den Menschen gemacht hat. Viele Probleme, die schon da waren, werden und wurden durch die Isolation nochmals verstärkt. Kindern und Jugendlichen haben wir die Möglichkeit des emotionalen Lernens genommen. Dafür brauchen sie direkten Kontakt, Umarmungen und auch Rangeleien, um soziale Beziehungen zu lernen. Das Fehlen dessen hat Auswirkungen: Anstiege von Essstörungen, Adipositas oder psychosomatischen Erkrankungen. Unser Jugend- und Sozialamt arbeitet deshalb bereits an einem Aktionsplan Corona. Dort wollen wir mittel- und langfristige Maßnahmen entwickeln, um betroffene Kinder wieder zurück ins soziale Miteinander zu holen. Wie haben aber auch andere Gruppen wie zum Beispiel Senior:innen im Blick.
Interview: Steven Micksch
