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Frankfurter Pfarrerin sagt: „Vieles an Ängsten bricht aus Seelenecken“

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Von: Claus-Jürgen Göpfert

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Auch mit 64 Jahren noch begeistert von ihrem Beruf: Andrea Braunberger-Myers, evangelische Pfarrerin der Nikolaikirche am Römer.
Auch mit 64 Jahren noch begeistert von ihrem Beruf: Andrea Braunberger-Myers, evangelische Pfarrerin der Nikolaikirche am Römer. © Renate Hoyer

Die Pfarrerin Andrea Braunberger-Myers der Alten Nikolaikirche in Frankfurt betet für Frieden in der Ukraine und kämpft für die Paulskirche als Gotteshaus

Draußen auf dem Römerberg sammeln sich Hunderte von Menschen in weißen Kitteln, stehen mit Transparenten und Bannern vor einer Bühne, über der geschrieben steht: „Wir sehen schwarz“. Während das medizinische Personal der Kliniken für bessere Arbeitsbedingungen und höhere Entlohnung demonstriert, hat sich drinnen im Halbdunkel der Nikolaikirche ein Obdachloser auf Stühlen in Fleecedecken zum Schlafen eingerollt. Andrea Braunberger-Myers zündet zwei Kerzen auf dem Altar an. Wieder einmal, so sagt die Pfarrerin, stehe ihr Gotteshaus mitten im Leben der Stadt. Es ist die Kirche in Frankfurt, vor der seit Jahrzehnten am meisten demonstriert wird. Und manchmal, wenn ihr die Inhalte des Protests nicht gefallen, mischt sich die Gemeinde ein. Als die Fragida-Demonstranten gegen Corona-Schutzmaßnahmen vor dem Kirchentor zusammenkamen, hängte die evangelisch-lutherische St. Paulsgemeinde ein Banner mit einem Bibelzitat an die Fassade.

Das ist genau die lebendige Kirche, die sich Braunberger-Myers wünscht. Seit 35 Jahren arbeitet die Geistliche in der Gemeinde, eine rekordträchtige Wegstrecke, für die sie dankbar ist. Ein „Zeichen hoher Wertschätzung“, so die gebürtige Bad Homburgerin.

Vor einem Jahr jedoch trat ein Ereignis ein, das den Kirchenalltag verändert hat, das bis heute „große Verwerfungen“ und „hart geführte Diskussionen“ in der evangelischen Kirche provoziert. Russland begann am 24. Februar 2022 seinen blutigen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Seither brennen zwei Kerzen in der Alten Nikolaikirche, im Inneren steht zu lesen: „Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein.“ Und der Brief eines Jungen aus der Ukraine wird dort zitiert: „Ich möchte leben und nicht sterben, ich möchte lachen und nicht weinen.“

Die Seelsorge habe sich verändert, berichtet die Pfarrerin. „Vieles an Ängsten kommt gerade bei den alten Menschen wieder hoch, viele alte Erinnerungen brechen aus Seelenecken hervor.“ Erinnerungen etwa an die Bombennächte des Zweiten Weltkrieges und die Zerstörung der Frankfurter Altstadt 1944, die betagte Angehörige der Gemeinde noch miterlebten. Die knapp 1100 Gläubigen der Gemeinde haben zugleich viele Geflüchtete aus der Ukraine integriert.

In der Kirche aber entflammt die Diskussion darüber, „was mögliche Wege zum Frieden sein können“. Seit dem 24. Februar 2022 betet die Pfarrerin jeden Sonntag in ihrem Gotteshaus für Frieden in der Ukraine. Sie selbst ist nachdenklich geworden, fühlt sich innerlich zerrissen. „Ich war früher immer gegen Waffenlieferungen.“ Aber wenn die Ukraine sich nicht wehren könne, werde sich Russland das Land einverleiben.

Braunberger-Myers ärgert sich darüber, wie wenig Initiativen für den Frieden es gibt, „wie schwach die UNO ist“. Am 24. Februar, zum Jahrestag des Einmarsches, wird sie mittags um 12 Uhr in der Alten Nikolaikirche mit den Gläubigen für den Frieden beten.

Als Jugendliche schon, nach dem Konfirmationsunterricht, hatte die Tochter aus evangelischer Familie begonnen, in Gottesdiensten mitzuarbeiten. Noch heute, im Alter von 64 Jahren, kann sich die Geistliche über ihren „tollen Beruf“ freuen. Wir sitzen in ihrem Büro, haben eine steile Wendeltreppe in der neuen Frankfurter Altstadt erklommen. Und die Pfarrerin, die sonst nicht zur Überschwänglichkeit neigt, strahlt geradezu. „Das Tolle an meiner Arbeit ist die Verkündigung, die Bibel weiterzugeben an die Menschen.“ Mit allen Generationen, mit allen gesellschaftlichen Schichten zu arbeiten.

Bei einem theologischen Studienjahr im schottischen Edinburgh lernte sie ihren späteren Ehemann, den US-Geistlichen Jeffrey Myers, kennen. Von Mitte der 90er Jahre an konnten sie sich die Seelsorge in der St. Paulsgemeinde teilen, bis ihr Ehemann in Rente ging.

Braunberger-Myers steht mitten im Leben, sie ist keine Traumtänzerin. Der Schwund der Gläubigen hat auch die evangelische Kirche erfasst. „Es gibt eine zunehmende Säkularisierung, es gibt eine wachsende Kritik an Institutionen.“ Was aber auch wachse, sei das Interesse an spirituellen Angeboten: „Die Sehnsucht nach Trost, Heilung, Antworten.“ Und genau das schenke die Alte Nikolaikirche, mit deren Bau im 12. Jahrhundert begonnen worden war, bereits als Ort: „Dort lässt sich große Geborgenheit erleben.“

Veranstaltungen

Bei vier Terminen betont die St. Paulsgemeinde die Rolle der Frankfurter Paulskirche als evangelisches Gotteshaus.

Am Donnerstag, 16. März, um 18 Uhr hält der Theologe Jürgen Telschow einen Vortrag zu den evangelischen Theologen in der Nationalversammlung von 1848. Ort: Gemeindehaus, Hinter dem Lämmchen 8, Frankfurter Altstadt.

Am Sonntag, 19. März , um 11.15 Uhr beginnt Pfarrer Jeffrey Myers einen Gedenkgang zur Paulskirche in Erinnerung an die Zerstörung der Frankfurter Altstadt durch Bombenangriffe vor 79 Jahren. Treffpunkt ist die Alte Nikolaikirche.

Am Donnerstag, 23. März, um 19 Uhr, geht es in einer Podiumsdiskussion um den Protestantismus und die Paulskirche. Ort: Evangelische Akademie, Römerberg 9.

Am Donnerstag, 30. März, um 18 Uhr hält der Theologe Jürgen Telschow einen Vortrag über die Frankfurter Evangelische Kirche zur Zeit der Paulskirchenversammlung. Ort der Veranstaltung: Gemeindehaus, Hinter dem Lämmchen 8. jg

Dort findet sich auch die Skulptur, die für sie „das theologische Leitmotiv“ bildet. Der lebendige Christus, „der Schmerzensmann“, zugleich aber der mitleidende Christus und damit „eine Trostfigur“.

Als die Bombenangriffe im Zweiten Weltkrieg die Frankfurter Altstadt trafen, blieb die Alte Nikolaikirche nahezu unversehrt. Auf den Fotografien aus dem Jahr 1945 lässt sich erkennen, wie insbesondere ihr Turm aus der Trümmerwüste herausragt. Die nahe Paulskirche dagegen war schwer beschädigt worden und bis auf ein Mauerskelett ausgebrannt. Mit einer großen nationalen Kraftanstrengung wurde die Paulskirche bis zum Jahr 1948 wieder aufgebaut, 100 Jahre, nachdem dort 1848 die erste freigewählte deutsche Nationalversammlung getagt hatte.

Ein Dotationsvertrag vom 12. Mai 1953 regelte später die Zukunft beider Gebäude. Heimat der St. Paulsgemeinde wurde die Alte Nikolaikirche. Die Paulskirche sollte als nationale Gedenkstätte für Festakte und große Feiern dienen, aber auch ihre religiöse Tradition sollte gewahrt bleiben. So steht es im Vertrag. So darf etwa das Kreuz auf dem Bauwerk nicht entfernt werden. Daran erinnert Andrea Braunberger-Myers nun, 175 Jahre nach der Nationalversammlung von 1848, mit großem Nachdruck. „Die Paulskirche ist eine evangelische Kirche, diese Erkenntnis ist leider in der Stadtgesellschaft nicht angekommen.“ Mehr noch: Im 19. Jahrhundert sei die Paulskirche „die evangelische Hauptkirche“ Frankfurts gewesen. Die Pfarrerin mischt sich also entschlossen ein in die Diskussion um die Sanierung und Zukunft der Paulskirche. „Sicherlich“, sagt sie und nickt.

Im März wollen die Fachleute der von Bund, Land und Stadt berufenen Kommission ihr Konzept vorstellen. Braunberger-Myers wünscht sich, dass dann auch „die evangelische Tradition“ des Bauwerks Berücksichtigung findet. Denn auch die Kirche verkörpere die demokratischen Werte, für die 1848 die erste Nationalversammlung gestanden habe. Auch in Zukunft solle es Gottesdienste in der Paulskirche geben. Im März will die Geistliche deshalb in mehreren Veranstaltungen an die Vergangenheit des Gebäudes als Gotteshaus erinnern.

Als 1848 die Abgeordneten der Nationalversammlung in der Kirche zusammenkamen, erklärt sie, hätten die Fenster des Hauses noch aus schlichtem Glas bestanden. „Man konnte also rausgucken und reingucken.“ Diese Transparenz gefällt der Pfarrerin. Bei der anstehenden Sanierung könne man die heute intransparenten Fenster wieder genauso gestalten: „Das fände ich gut.“

Jetzt lächelt die Geistliche. Es gefällt ihr, dass neben Stadt, Land und Bund auch Bürgerinitiativen bei der Zukunft der Paulskirche mitreden wollen. „Die Frankfurter Stadtgesellschaft hat sich auf den Weg gemacht, das ist eine wunderbare Entwicklung.“

Eine Glaubensgemeinschaft, die sich einmischt: Wenn die evangelische Kirche so bleibt, ist es Andrea Braunberger-Myers um die Zukunft nicht bange. Auch wenn die Zahl der Gläubigen in den Gemeinden in Frankfurt sinkt. Bis zum Jahre 2030 will sich die Kirche in Frankfurt und Offenbach neu organisieren. Schon 2026 sollen „Nachbarschaftsräume“ gebildet sein: Benachbarte Gemeinden nutzen dann Gotteshäuser gemeinsam, gründen gemeinsame Büros.

Die Pfarrerin weist stolz darauf hin, dass die christlichen Kirchen noch immer eine Mehrheit unter den Gläubigen in Frankfurt stellen. Die Geflüchteten, die der Krieg aus der Ukraine in die Stadt vertrieben hat, stärken als Christinnen und Christen diese Basis.

Doch erst einmal geht es auch in der Alten Nikolaikirche um Unmittelbares und Handfestes. Die Fleecedecken, in die der Obdachlose sich einhüllt, liegen aus, weil der Dekanatssynodalvorstand beschlossen hat, die Kirchen in diesem Winter nicht zu heizen. Es soll Energie gespart werden.

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