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Frankfurter Geschäftsmann in den Suizid getrieben

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Von: Jürgen Streicher

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Historikerin Angelika Rieber und Stadthistoriker Dieter Wesp beim Stadtrundgang.
Historikerin Angelika Rieber und Stadthistoriker Dieter Wesp beim Stadtrundgang. © Monika Müller

Die Veranstaltungsreihe „Denk Mal Am Ort“ erinnert in Frankfurt an die Opfer des Nationalsozialismus.

Die Botschaft auf dem Wegweiser vor dem Haus Kantstraße 6 ist kurz, von Hand geschrieben, besonders eindringlich. „Nie wieder Faschismus!!!“ Sie steht unter 32 aufgelisteten Namen, von Menschen, die hier im „Ghettohaus“ gelebt haben. Entrechtet, verfolgt, ermordet, nur sieben von ihnen haben die Nazi-Diktatur überlebt. Mit Fotografien, Dokumenten und biografischen Notizen wird vom Parterre bis zum 4. Stock an sie erinnert, die heutigen Bewohner:innen haben dazu eingeladen.

Im engen Treppenhaus des Altbaus ist am Samstagnachmittag reichlich Betrieb, herrscht ein ständiges Kommen und Gehen. Leise Gespräche meist, dicht gedrängt Suchende, Interessierte, Angehörige, Neugierige, Mitfühlende, es gibt so viel zu erzählen an diesem Tag. In der Kantstraße und noch an sieben anderen Orten in der Stadt, an denen bei der Veranstaltung „Denk Mal Am Ort“ an Menschen erinnert wird, die während der NS-Zeit verfolgt wurden.

Wenn Häuser Geschichten erzählen, dann strömen an einem regnerischen Samstag mehr als 100 Menschen zu einer Führung auf Spuren jüdischen Lebens im „Diplomatenviertel“ an der Zeppelinallee. Nutzen die Chance, durch die über 100 Jahre alte „Villa 102“ in Bockenheim zu streifen, deren bewegte Chronik vom bürgerlichen Westend und jüdischem Leben in Frankfurt zeugt, aber auch von Vertreibung und Enteignung. Wenn Häuser durch ihr heutiges Bild nicht mehr sichtbar alte Geschichten erzählen können, dann müssen Menschen diese Geschichten erzählen. Menschen wie die Lehrerin und Historikerin Angelika Rieber, wie der Stadthistoriker Dieter Wesp und sein Kollege Thomas Claus.

Angelika Rieber, Vorsitzende des Projekts „Jüdisches Leben in Frankfurt“, erzählt unter erschwerten Bedingungen. An der Hauptwache und auf der Zeil peitschen böige Winde und Regen auf und unter Schirme, Tausende Menschen strömen unter lauter Geräuschkulisse durch die größte Einkaufsmeile der Stadt im aufgeregten Wirbel der neuen Zeit. Glanzpaläste die Kaufhäuser wie einst, nur im neuen Design.

„Blöd, das gibt es leider alles so nicht mehr“, Historikerin Rieber sagt es mit Bedauern mit Blick auf die modernen Fassaden. Nur mit Fotografien aus Gründerjahren kann sie versuchen, das alte Bild noch einmal in die Köpfe der Menschen zu projizieren. „Das Interesse ist überwältigend“, so Rieber, der „Stadtgang“ mit Blick auf die frühere Kaufhauskultur ist dreifach überbucht. An diesem 90. Jahrestag des „Aprilboykotts“ von 1933, als der NS-Staat eine systematische, akribisch vorbereitete Kampagne gegen jüdische Geschäfte startete.

Ein „Dorn im Auge“, so Rieber, waren den Nazis die bekannten und beliebten Treffpunkte, das „Kaufhaus Tietz“ etwa, wo heute hinter der immer noch markanten Fassadenform „Galeria Kaufhof“ aus anderen Gründen um Zukunft bangt. Die Kaufhauskultur mit integrierter Cafékultur erlebte in den 20er Jahren ihre Blütezeit, die Nationalsozialisten sahen sie als Angriff auf den Mittelstand, vor allem, da zahlreiche Kaufhäuser in jüdischem Besitz waren. Gezielter Boykott mit SA-Posten vor Geschäften und Unterstützung von NS-Kampfgruppen markierten an jenem 1. April 1933 die brutale Kampfansage an das „Judentum“, die der „Völkische Beobachter“ drei Tage zuvor angekündigte.

„Boykottiert, Arisiert, Enteignet“, es sind die Stichworte, die über dem Stadtgang im Regen zu den damaligen „Tatorten“ stehen. Zu den verschwundenen Kaufhäusern Tietz und Cohn später Wagener & Schloetel, zum absoluten „Haus am Platze“, dem Radio- und Fotogeschäft von Fritz Ehrenfeld, zur Ladenkette Wittwe Hassan, alle auf der Zeil, und zum Geschäft Porzellan-Bär in der Stiftstraße. Zu den Lebensgeschichten von Geschäftsinhabern und ihren Familien, zu den Menschen der Zeit, den Opfern von Hetze, Gewalt und Vertreibung.

Ruhiger als auf der Zeil ist es in der Stiftstraße mit der erhaltenen Jugendstil-Fassade von 1903 mit den vier Bärenköpfen aus Stein, die über dem vierten Stockwerk unter der geschweiften Dachkante nach unten lugen. Das jüdische Unternehmen wird noch bis 1936 von Leopold Bär geleitet, er begeht Suizid im Gebäude, als ihm und seiner Familie die Lebensgrundlage geraubt wird.

Die Namen der Gründer Bonwit und Bär leben weiter, ein Schweizer Investor plant im Komplex, der bis in die Brönnerstraße mit dem einstigen Club „Sinkkasten“ reicht, einen „Urban workplace with History“. Die Bär-Geschichte arbeitet Stadthistoriker Dieter Wesp für die Investoren auf. Sie soll in die Zukunft integriert werden.

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