Frankfurter Cäcilienchor erinnert an NS-verfolgte Mitglieder: „Seine Emotionen hat er irgendwo weggepackt“

Ernst Strauss musste als Kind sich von seinen Eltern trennen und seine Heimatstadt Frankfurt verlassen. Um zu überleben. Seine jüngste Tochter Cynthia Strauss ist aus ihrer Heimat Kalifornien nach Frankfurt gereist, weil nicht nur ihrem Vater, sondern auch anderen in der NS-Zeit verfolgten Mitglieder des Cäcilienchors und deren Familiene mit Stolperstein-Enthüllungen, Gedenkkonzert und einem Buch gedacht wird.
Ernst Strauss muss kurz nach seinem elften Geburtstag seine Heimatstadt Frankfurt und seine Eltern verlassen. Um zu überleben. Um kein Opfer des NS-Regimes zu werden. Seine Mutter Hanna ist evangelisch, sein Vater Fritz jüdisch: Sie beschließen, ihn nach dem Novemberpogrom 1938 auf das reformpädagogische Internat Eerde in die Niederlande zu schicken. Nach dem Zweiten Weltkrieg wandert er in die USA aus, nennt sich von da an Ernest, wird Anästhesist, führt eine glückliche Ehe und ist Vater von drei Töchtern und Großvater von zwei Enkeltöchtern. Heute lebt der 95-Jährige in Irvine, Kalifornien.
Sein Name steht auf einem der 22 Stolpersteine, die zum Gedenken an die im Nationalsozialismus verfolgten Mitglieder des Frankfurter Cäcilienchors und ihrer Familien an diesem Samstag und Sonntag feierlich enthüllt werden.
Ernests jüngste Tochter Cynthia Strauss sagt: „Immer wenn mein Vater uns von seiner Flucht erzählt, dann ist das rein auf Fakten bezogen. Also wann und wo er einen Zug genommen hat, welche Menschen ihm geholfen haben. Nie sagt er: ‚Ich hatte Angst‘ oder ‚Ich war traurig‘. Obwohl er ein sehr warmherziger Mensch ist, hat er bei diesem Thema seine Emotionen irgendwohin weggepackt.“ Die 57-jährige Amerikanerin ist mit ihrem Mann Kenneth Bewick aus ihrer Heimatstadt Santa Cruz in Kalifornien diese Woche nach Frankfurt gereist, um bei den Stolperstein-Enthüllungen dabei zu sein. Zudem gibt es am Montagabend ein Gedenkkonzert in der Katharinenkirche. Mitsingen will Cynthia Strauss nicht. „Das musikalische Talent meines Vaters habe ich nicht geerbt.“ Ernest Strauss ist nicht dabei, die Reise zu anstrengend in seinem Alter. Seine älteste Tochter Marcelle pflegt ihn. Cynthia Strauss sagt: „Er freut sich, dass ich hier bin; gleichzeitig macht er sich Sorgen, weil Deutschland für ihn bis heute ein Ort ist, wo man nicht sicher ist, wo man aufpassen muss.“
Die Sprachtherapeutin erzählt, dass sie ihren Mädchennamen bewusst nach der Hochzeit behalten habe, eben um auch an die Geschichte des Vaters zu erinnern. Fast 85 Jahre nach seiner Flucht sitzt sie im lichtdurchfluteten Wohnzimmer von Christiane Grün in Bad Soden. Seit drei Jahren kennen sich die Frauen, aber bis vor wenigen Tagen nur über Videogespräche.
Grün ist nicht nur Mitglied des Frankfurter Cäcilienchors, sondern gehört eben auch zum Team des Chors, das seit 2020 über die lange unbekannte Geschichte der verfolgten Mitglieder und deren Familien in der NS-Zeit recherchierte. „Einmal war Ernest bei einem Videotelefonat dabei. Er hat so eine freundliche und offene Art. Wie seine Tochter“, sagt Grün, die Cynthia Strauss und ihren Mann eingeladen hat, während ihres Aufenthalts bei ihr zu wohnen. Man spürt sofort eine Verbundenheit zwischen den Frauen, die beide am 21. Dezember Geburtstag feiern; Grün ist nur drei Jahre älter. Ihre Recherche war keine leichte Aufgabe, da die Unterlagen des Chors während des Zweiten Weltkriegs im Saalbau verbrannt waren; nur zwei Mitgliederbücher von 1923/24 und 1925 gibt es noch.
Grün konzentriert sich mit einer Kollegin Judith Wilke-Primavesi auf fünf Mitglieder der Familie Strauss: „Angefangen haben wir mit Daisy Strauss, die Tante von Ernst. Eine Sängerin. Erst später sind wir auf Ernst und seine Geschichte gestoßen und dann auf seine Familie in Kalifornien“, sagt Grün.
Gedenktage mit Konzert, Stolpersteinen und
Der Cäcilienchor Frankfurt , der 1818 gegründet wurde, erinnert jetzt an 23 ehemalige jüdische Mitglieder, die in der NS-Zeit verfolgt, entrechtet und zum Teil ermordet wurden. In Zusammenarbeit mit der Initiative Stolpersteine werden 22 Stolpersteine für die Mitglieder und deren Angehörige an diesem Samstag- und Sonntagnachmittag in Bockenheim, im Westend und in Sachsenhausen feierlich enthüllt.
Am kommenden Montag um 20 Uhr in der Katharinenkirche gibt es zudem die Wiederholung eines Konzerts mit Motetten und Orgelvorspielen von Johannes Brahms. Dabei handelt es sich um dasselbe Programm am selben Ort wie vor 90 Jahren: Am 8. März 1933, drei Tage nach dem Wahlsieg der Nationalsozialisten in Frankfurt, war es das letzte Konzert bei dem die jüdischen Chormitglieder mitsingen durften. Der Chor erwartet zu den Gedenktagen 50 Angehörige aus den USA, Israel, Österreich, Frankreich, Großbritannien und den Niederlanden. Der Eintritt zum Konzert ist kostenlos.
Es ist jetzt auch eine zweisprachigeSchrift (Englisch und Deutsch) mit Biografien der ehemaligen ,,Cäcilien“ und ihrer Familien erschienen. Das Buch kann man für eine Schutzgebühr von 5 Euro beim Konzert erwerben oder direkt beim Cäcilienchor bestellen unter: www.caecilien chor.de
Alle Orte, Zeiten der Stolperstein- Verlegungen am Wochenende sind zu finden unter:
www.stolpersteine-frankfurt.de
Erst habe sie sich durch staubige Akten im Hessischen Haupt- und Staatsarchiv in Wiesbaden gewühlt, später dann über Facebook mit den Töchtern von Ernest Kontakt aufgenommen. Cynthia Strauss sagt: „Als ich die Nachricht las, war ich erst mal kritisch, weil ich meinen Vater immer beschützen will. Aber ich habe schnell gemerkt, dass ich Christiane vertrauen kann, und jetzt bin ich ihr so dankbar, auch weil durch sie viele Lücken in der Geschichte meines Vaters geschlossen wurden.“ Sie betont: „Mein Vater hat mir die Fähigkeit vererbt, dass ich spüre, welche Menschen gut sind, wem man vertrauen kann. Diese Fähigkeit hat ihm auch dabei geholfen, dass er am Ende überlebt hat.“
Aus der Recherche von Grün und den anderen zwölf Mitgliedern des Chors ist das Buch „Spurensuche. Verfolgte Mitglieder des Cäcilienchors Frankfurt am Main und ihre Familien ab 1933“ entstanden, das gerade erschienen ist. Darin gibt es ausführliche Biografien mehrerer Frankfurter Familien. Nicht alle überlebten das NS-Regime.
So wird Ernsts Tante Daisy, die zuletzt in Berlin als Sängerin lebte, 1942 nach Riga deportiert. Wie genau sie starb, bleibt unklar. „Ich hoffe immer noch, dass irgendwo ein Koffer von Daisy auftaucht. Die Recherche ist nie zu Ende“, sagt Grün. Ernsts Tante und seine Großmutter Louise waren beide Mitglieder des Cäcilienchors. Mit 80 Jahren wird Louise Strauss ins Ghetto Theresienstadt deportiert. Als Todesursache wird „Darmkatarrh“ vermerkt. Für alle fünf Familienmitglieder gibt es Stolpersteine. Die von Ernst und seinen Eltern Fritz und Hanna sind in der Altkönigstraße 11 im Westend, wo sie zuletzt als Familie zusammenlebten.
Es gibt ein Wiedersehen: Acht Jahre nachdem Ernst Strauss seine Eltern verlassen musste, besucht er sie nach dem Krieg 1946 in Frankfurt. Da ist er bereits ein junger Mann. „Was er empfunden hat, als er sie wiedergetroffen hat, nein, darüber spricht er nicht“, sagt Cynthia Strauss. Sie lernt ihren Großvater Fritz persönlich kennen, als sie ihn als Zehnjährige mit ihrer Familie in Frankfurt besucht. „Er lachte nicht nur mit dem Gesicht, sondern mit den Augen.“ Ihre Großmutter war da schon im Alter von 76 Jahren gestorben. Ihre Großeltern Hanna und Fritz hatten sich im Cäcilienchor kennengelernt. Sie überleben, weil sie während des Krieges im Odenwald bei einem Bauern untertauchen konnten. Ernst Strauss bleibt nicht bei ihnen in Frankfurt. Er kehrt zurück in die Niederlande, aber wird dort in das Kamp Mariënbosch interniert. Ein Lager, das die niederländische Regierung unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg eingerichtet hatte. Mit der Operation „Schwarze Tulpe“ sollten die 17 000 bis 25 000 in den Niederlanden lebenden Deutschen – unter ihnen auch viele Verfolgte des Nazi-Regimes, vertrieben werden. Ernst Strauss hatte schon da Kontakte in die USA aufgenommen. Menschen, die ihm helfen, so dass er 1947 auswandern kann. „Es ist schwer zu begreifen, dass die Niederlande, die Ernest erst vor den Nazis gerettet haben, ihn in ein Camp nach dem Krieg zwangen“, sagt Cynthias Mann Kenneth Bewick. Er erzählt, dass er früher, wenn sein Schwiegervater bei einem Wein von seiner Vergangenheit sprach, er dies zur Erinnerung aufgezeichnet hat.
Wie Cynthia betont, habe ihr Vater nie zu Hause mit ihnen in seiner Muttersprache gesprochen. Auch weil ihre Mutter, eine amerikanische Künstlerin mit litauischer Abstammung, kein Deutsch sprach. „Ich wollte aber sowieso auch lange Zeit nichts mit Deutschland zu tun haben. Ich verband damit nichts Gutes.“ Ihrem Vater sei es sehr wichtig gewesen, dass die Töchter wussten, was der Holocaust bedeutet. „Als Kinder schauten wir mit ihm eine Dokumentation. Ich erinnere mich, wie unwohl ich mich fühlte, weil er mit im Raum saß.“
Jetzt durch den freundschaftlichen Kontakt mit Christiane Grün, den Austausch über die Geschichte ihres Vaters, aber auch weil zwei deutsche Austauschschülerinnen bei ihr lebten, habe sich ihre Meinung zu Deutschland verändert. „Ich möchte die doppelte Staatsbürgerschaft beantragen“, sagt Cynthia Strauss und lächelt. Ihre Augen strahlen.

