Frankfurt: Trauer um Heiner Halberstadt

Er galt als das linke Gewissen Frankfurts. Nun ist Heiner Halberstadt, Mitbegründer des Club Voltaire, im Alter von 92 Jahren gestorben.
Schon seit einiger Zeit waren die über Jahrzehnte vertrauten Anrufe ausgeblieben. Hatte es keine Briefe und keine Manuskripte mehr gegeben, in denen er hinwies auf schreiendes Unrecht und stilles Leid weit über Frankfurt hinaus. Heiner Halberstadt hatte sich in seine eigene Welt zurückgezogen, in die ihm keiner mehr folgen konnte. Jetzt ist der Mann, der Generationen als ihr linkes Gewissen galt, im Alter von 92 Jahren gestorben. Das Leben eines engagierten Mannes, der sich nicht anpassen wollte und konnte, ist zu Ende. Ein großer Verlust nicht nur für die Partei Die Linke, deren Ältestenrat er bis zuletzt angehörte.
Es ist schwer, diese Vita kurz zu fassen. Brummend und knurrend hat er stets erzählt, in knappen, prägnanten Sätzen, die mäanderten wie ein langer Fluss. Der Schnurrbart, den er beim Reden zwirbelte, wurde langsam weiß. Seine Erinnerungen gingen zurück in die Schreckensnacht 1938, in denen das Kind erlebte, wie die Nazis die Synagoge von Dortmund-Hörde anzündeten, Menschen verschleppten. Als der Jugendliche kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs noch Flakhelfer werden sollte, tauchte er unter.
Mit Parteien und Organisationen und ihren Zwängen tat er sich schwer. Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg: Das war für den jungen Mann in Frankfurt am Main, der 1946 in die SPD eintrat, mehr als nur Parole. Dieses Ziel verfolgte er sein Leben lang. Natürlich nahm er an den Ostermärschen teil, protestierte gegen die Wiederbewaffnung Deutschlands. Dafür schloss ihn die Partei 1962 aus.
Im selben Jahr gründete er in Frankfurt den linken Treffpunkt, der mit seinem Namen verbunden bleibt, den Club Voltaire. Er sollte ein unabhängiger Freiraum sein für Diskussionen, aber auch für Musik. Bis heute besteht der Club im schmalen Häuschen Kleine Hochstraße 5 in der Frankfurter Innenstadt fast unverändert. Die Bar, die Kneipe, oben die Bibliothek. Der Club Voltaire fand viele Nachahmer. Halberstadt setzte dort Zeichen gegen den konservativen Zeitgeist der frühen Bundesrepublik. Lud DDR-Autor:innen ebenso ein wie die Black Panther, die schwarzen militanten Widerstandskämpfer aus den USA. Der Club organisierte die Flucht vor dem Vietnamkrieg desertierter US-Soldaten ebenso wie Feste von Schwulen.
Mit der Revolte der Studierenden 1968 fremdelte Halberstadt zunächst, zu fern waren ihm die Bürgersöhne, die da auf die Barrikaden gingen. Doch dann nahm er sie auf, organisierte Rechtsberatung bei Demos, unzählige Debatten, zu denen Filmteams aus ganz Deutschland kamen.
Halberstadt wurde Mitglied des städtischen Gesamtpersonalrats, vertrat die Rechte von 15 000 Beschäftigten. Durch die Ostpolitik Willy Brandts kam es zur Wiederversöhnung mit der SPD: 1972 trat er wieder in die Partei ein. Und als 1989 die erste rot-grüne Koalition im Frankfurter Römer gebildet wurde, berief der sozialdemokratische OB Volker Hauff den Linken zum Büroleiter. Doch der Ausflug in die Realpolitik verlief für Halberstadt ernüchternd. Seine linken Konzepte etwa für preiswerten sozialen Wohnungsbau besaßen in der Wirklichkeit keine Chance. Hauff rieb sich auf im Streit mit der SPD, floh 1991 aus der Stadt. Halberstadt kehrte in den Club Voltaire zurück, warb für ein bundesweites linkes Bündnis der neuen PDS mit der SPD. Die Sozialdemokraten betrieben erneut seinen Parteiausschluss, diesmal trat Halberstadt freiwillig aus.
Von 2001 bis 2006 war er noch PDS-Stadtverordneter. Von da ab kämpfte er in Artikeln und Leserbriefen, viele davon in der Frankfurter Rundschau, und mit Veranstaltungen für ein starkes linkes Lager in Deutschland und die Überwindung der kapitalistischen Verhältnisse. Seine Stimme wird fehlen.