1. Startseite
  2. Frankfurt

Frankfurt: Schwestern ohne Grenzen

Erstellt: Aktualisiert:

Von: Thomas Stillbauer

Kommentare

Petra Milz heute, bald 60 Jahre später.
Petra Milz heute, bald 60 Jahre später. © Christoph Boeckheler

Die Frankfurterin Petra Milz und die Französin Dominique Casandjian waren beim ersten Jugendaustausch nach dem Krieg dabei – ihre Familien sind bis heute eng verbunden.

Staatenlenker führen Kriege. Aber frag mal die Menschen. Die wollen im Grunde nur eins: friedlich zusammenleben. Und neugierig auf ihre Nächsten sind sie. Bestes Beispiel: Petra Milz und Dominique Casandjian, Freundinnen, nein, Schwestern, seit fast 60 Jahren inzwischen. Ihre Geschichte und die ihrer Familien ist eine Geschichte von Liebe und Versöhnung über Grenzen hinweg.

Und eine Geschichte über Jugendaustausch. Der war Bestandteil des Élysée-Vertrags, den die Herren Charles de Gaulle und Konrad Adenauer 1963 besiegelten. Darin ging es um die Überwindung der Erbfeindschaft und um viel Gemeinsamkeit, also auch um ein Austauschprogramm für Schülerinnen und Schüler.

„Ich war in der Schillerschule“, sagt Petra Milz. „Meine Lehrerin hat gesagt, ich sei sprachbegabt, und ich sollte da mitmachen.“ So fängt die Geschichte von Petra und Dominique an. Aber eigentlich geht sie noch viel früher los.

Vor ziemlich genau 80 Jahren, im November 1941, beschließt nämlich Pierre Jarno: Ich fliehe. Aus deutscher Kriegsgefangenschaft. Das wird dem französischen Unteroffizier gelingen, wenn auch erst gut eineinhalb Jahre und zahlreiche gescheiterte Versuche später. Ist er am Ende des Zweiten Weltkriegs verbittert? Aber nein, er kommt zurück, jetzt als Besatzer, der sogar ein wenig Deutsch spricht, nach Trier. Und dort wird seine Tochter Dominique geboren.

Petra Milz’ Vater muss ebenfalls in den Krieg, für die andere Seite. Nach Frankreich. Ist er anschließend verbittert? Auch nicht. „Er war begeistert von Frankreich“, sagt die Tochter viele Jahre später in der gemütlichen Sachsenhäuser Wohnung. „Er wollte unbedingt, dass wir das machen.“ Das mit dem Jugendaustausch. Mit Frankreich. „Obwohl wir gar nicht alle Bedingungen erfüllten“, sagt Petra Milz. Eine Bedingung war nämlich: zusätzliches eigenes Zimmer für den jungen Austauschgast. Aber kein Problem, die Familie rückt zusammen, Dominique bekommt Petras Zimmer für sich.

Zuvor hat es noch ganz andere Hindernisse gegeben. Im Bus aus Lorient ganz im Westen Frankreichs sitzt ein Mädchen, das seinen Ausweis vergessen hat. Richtig: Dominique. „Sie mussten sie an der Grenze unter Mänteln verstecken“, sagt Petra Milz und lacht. Und dann bei der ersten Begegnung: „Ich war ja eine Riesin in dem Alter – Domi kam sofort auf mich zu und sagte: Komm, wir gehen.“ Der Beginn einer wunderbaren Freundschaft.

Petra Milz ist gelernte Lehrerin wie ihr Mann, arbeitete später als Spieltherapeutin und war 26 Jahre in einer Kindertagesstätte beschäftigt. Ihre freundliche Art wärmt den Raum. Es gibt Café au Lait und portugiesisches Gebäck, Pastei de Nata.

Wie läuft das damals, 1963, mit dem sogenannten Schüleraustausch (Mädchen hat man natürlich mitgemeint), nach dem verheerenden Krieg, noch keine ganze Generation später? Die Jugendlichen verbringen drei Wochen hier miteinander, drei Wochen dort, und gehen jeweils mit in den Schulunterricht. „Die Franzosen haben es genossen, dass es hier mehr Freiheiten in der Schule gab“, sagt Petra Milz, damals 15 Jahre alt, „und dass man auch mal Quatsch machen durfte.“ Dagegen der Unterricht in Frankreich: „furchtbar streng“. Die Lehrerin fordert die Deutschen auf, ihre Sitznachbarinnen und -nachbarn zu verpetzen, wenn sie Fehler machen. Andererseits geht die Gruppe gemeinsam ohne große Vorschriften zelten. „Das waren wiederum Freiheiten, die kannte ich nicht.“

Manche treffen 1963 ihre neuen französischen Freunde ein Mal, manche danach noch ein zweites Mal. Petra und Domi jedoch wachsen zusammen wie Schwestern. Die eine besucht die andere in den Sommerferien, und auch die Familien freunden sich an. In Frankfurt übernachten alle zusammen in der vergleichsweise winzigen Wohnung. Die Eltern übertreffen einander jeweils in der Großzügigkeit gegenüber dem Gastmädchen. Und das, man kann es gar nicht oft genug sagen, nach den schrecklichen Kriegsjahren.

„Die Idee des Austauschs ist einfach fantastisch“, sagt Christian Milz, Petras Ehemann, der selbst als Schüler in Frankreich war und mit seinem Austauschpartner auch noch einige Zeit in Kontakt blieb. „Es ist so ein wertvolles Muster: Man lernt die Menschen kennen, erweitert seinen Erfahrungshorizont, und es kostet nicht viel.“ Viele der Kinder sind ja bis dahin noch nie im Ausland gewesen.

Es folgen Zeiten mal mit mehr, mal mit weniger Kontakt zwischen dem französisch-deutschen Schwesternpaar. Wenn sie sich sehen, erleben sie Abenteuer, dürfen sogar eine Woche allein im Ferienhaus sein, beherbergen Nachbarskinder mit Katzen und Meerschweinchen, sind Stammgäste in einer improvisierten Crêperie, in die sie die eigenen Zutaten für die Pfannkuchen mitbringen dürfen. Einmal fährt Petra mit einer Klassenkameradin, Ionka Senger, der Tochter des Schriftstellers Valentin Senger („Wir waren in der Klasse die Antifaschistinnen“), im Zug zu Domi nach Frankreich. Die zwei machen sich kichernd auf Deutsch über einen Mitreisenden lustig, der sie schließlich – ebenfalls auf Deutsch – darauf hinweist, dass sie offenbar im falschen Bummelzug sitzen. Abseits der Zivilisation, abends um zehn.

Dominique (links) und Petra als Schülerinnen.
Dominique (links) und Petra als Schülerinnen. © FR

Die Rettung kommt, wie so oft, in Gestalt von Dominiques Vater, von allen „Papi“ genannt (Betonung natürlich auf der zweiten Silbe), der sofort losfährt und sie nachts mit dem Auto abholt. „Ein Mann mit Rückgrat“, schwärmt Christian Milz. Der ehemalige Kriegsgefangene Jarno wird später Bürgermeister im bretonischen Camors, ist zunächst politisch konservativ, aber als man „seinen“ Wald abholzen will, wechselt er erbost die Seiten – und gewinnt. „Er ist seinen Weg gegangen und hat sich nicht verbogen. Ein Prachtkerl.“ Papi nennt seine in Trier geborene Tochter „Domchen“.

Um 1968 herum ist eine wilde Zeit. Von Dominique kommt per Post ein Foto, das sie mit dickem Bauch bei der Hochzeit zeigt. Ihr Mann Charles ist ein Studierendenführer. Als auch im Hause Milz Kinder zur Welt kommen, wird die Familie sofort eingeladen. Gewisse Unterschiede bleiben trotz aller Nähe, sie sind den gesellschaftlichen Umständen geschuldet. „Wir waren in der Erziehung ganz antiautoritär“, sagt Petra Milz. Viel später habe sie die Freundin gefragt: „War das nicht komisch für euch?“ Und Domi darauf: „Wir haben euch immer dafür bewundert.“

Die Kommunikation wechselt mit der Zeit vom Briefeschreiben hin zu E-Mail und Whatsapp. Die Familien machen gemeinsame Urlaube. Für das kommende Jahr ist schon ein Bauernhof mit Wiese und Wald in der Bretagne gebucht. Dominiques Enkelin kommt demnächst für zwei Semester zum Studieren nach Deutschland. Der Austausch über die Grenzen hinweg geht weiter. Viele junge Leute verbringen heute Zeit im Ausland nach dem Schulabschluss. Den Weg dorthin hat auch die erste Generation von 1963 geebnet, mit Frankfurter Beteiligung.

„Es war ein Glück, dass unsere Väter den Krieg und ihre Erlebnisse nicht komplett negativ abgespeichert hatten“, sagt Petra Milz. „Sie waren trotz allem offen geblieben.“ Die kulturellen Gemeinsamkeiten von Frankreich und Deutschland existierten schon so lange, sagt Christian Milz. „Es ist doch absurd, wenn es Feindschaft gibt zwischen den Nachbarländern.“

Ihren Kindern haben die beiden jedenfalls bei der Wahl der zweiten Fremdsprache in der Schule gesagt: „Keiner macht Latein!“ Petra Milz lacht. „Mit Französisch kann man doch viel mehr anfangen.“

Auch interessant

Kommentare