Frankfurt: „Es geht um unser eigenes Überleben“

Klima und Artenvielfalt im Blick: Senckenberg-Chef Klement Tockner, zu Gast bei Göpfert im Club Voltaire, stellt Forderungen an die Politik.
Die Misere beim Namen nennen, ungeschönt – und doch immer wieder Mut machen: Das ist die große Kunst der Wissenschaft. Einer, der sie beherrscht, ist der Generaldirektor der Senckenberg-Gesellschaft für Naturforschung, Klement Tockner. Am Donnerstagabend sprach er im Club Voltaire bei „Göpferts Gäste“ mit dem früheren FR-Redakteur Claus-Jürgen Göpfert.
Sieben Prozent, der Wert sorgte vor ein paar Jahren für Aufsehen: Sieben Prozent der Fließgewässer in der Republik sind in einem guten ökologischen Zustand. „Das heißt: 93 Prozent geht es schlecht“, sagt Klement Tockner, dessen Spezialgebiet die Gewässerökologie ist. Jede dritte Art im Wasser gelte als gefährdet. „Aber heute kann man immerhin wieder im Rhein schwimmen. Vor 50 Jahren war er die Kloake Europas.“ Der Klimawandel macht die begradigten Flüsse jedoch auch zur Gefahr. Was tun? Eine Kombination aus technischen und natürlichen Lösungen, schlägt Tockner vor. Die Schweiz habe den Hochwasserschutz komplett verändert und den Flüssen Raum gegeben. Am Mississippi dagegen würden Gebäude im überflutungsgefährdeten Bereich einfach nicht mehr versichert. „Das war dort die entscheidende Maßnahme.“
Der 59-Jährige, auch Uni-Professor für Ökosystemwissenschaften, wuchs mit acht Geschwistern auf einem Bergbauernhof in der Steiermark auf. „Wir konnten im Winter mit dem Rodel in die Schule fahren“, sagt er. Und vergleicht: „Wo wir damals spielten, das wurde abfällig als Gestrüpp bezeichnet. Heute ist es ein Nationalpark. Das zeigt, was durch Engagement möglich ist.“
Den Zustand von einst, als alles Natur war, könne niemand zurückholen. Aber: „Es liegt großes Potenzial in der Renaturierung.“ Arten wanderten wieder ein, wenn der Mensch ihnen die Chance gebe. Ob sich also der Prozess umkehren lasse, der täglich klaffende Wunden in die Biodiversität schlägt, fragt Göpfert. „Auf jeden Fall!“, sagt Tockner. Wolf, Bär, Biber zeigten sich wieder. „Da spielt der Naturschutz eine entscheidende Rolle, dass etwa die Bejagung ausgesetzt wird.“
Die Artenvielfalt, sagt Tockner, sei zentral für die Gesundheit jedes Einzelnen – auch der Menschen. „Es geht um unser eigenes Überleben.“ Zehn Prozent Anstieg der biologischen Vielfalt hätten einen Effekt wie zehn Prozent mehr Gehalt, sagt der Forscher. Der Klimagipfel trage große Verantwortung. „Wir können es uns nicht leisten, keine konkreten Ergebnisse in Glasgow zu erzielen.“ Nötig sei auch ein Nachhaltigkeitsministerium, angesiedelt direkt beim künftigen Bundeskanzler. „Wir müssen in die Vorsorge investieren“, fordert Tockner, „nicht in die Heilung – die ist viel kostspieliger.“
Im Juli, sagt der Senckenberg-Chef, seien 2000 Leute täglich ins Naturmuseum gekommen, so viele wie nie, wissenshungrig nach dem Lockdown. Das mache Mut. „Unser Museum ist der erste Erfahrungsort für viele Kinder. Wir wollen erreichen, dass sie faszinierter, begeisterter, neugieriger sind, wenn sie rausgehen.“ Der Mensch sei die Ursache der Probleme, aber er sei auch die Lösung. „Wenn wir die gestaltende Kraft sind, sollten wir diese Kraft einsetzen. Das ist auch eine politische Aufgabe.“