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Frankfurt: Ein Buch erinnert an die Kindertransporte aus Nazi-Deutschland

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Von: Florian Leclerc

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Das „Waisen-Karussell" an der Kaiserstraße Ecke Gallusanlage erinnert an die Kindertransporte.
Das „Waisen-Karussell" an der Kaiserstraße Ecke Gallusanlage erinnert an die Kindertransporte. © Michael Schick

Aus Nazi-Deutschland flüchteten 20 000 jüdische Kinder - und etwa 600 Kinder aus Frankfurt. Ein Buch zeichnet einzelne Fluchtschicksale nach.

Es sind drei schlichte Formeln zum Abschied, die auf dem „Waisen-Karussell“ zu lesen sind: „Auf Wiedersehen, Vater“; „Auf Wiedersehen, Mutter“; „Auf bald, mein Kind“. Die Worte erinnern an das Schicksal von etwa 20 000 jüdischen Kindern, die in Zügen und ohne ihre Eltern aus dem nationalsozialistischen Deutschland flüchteten. Mehr als 600 Kinder stammten aus Frankfurt.

Das „Waisen-Karussell“ der israelischen Künstlerin Yael Bartana steht an der Kreuzung von Gallusanlage und Kaiserstraße. Sie hat es im Auftrag der Stadt Frankfurt entworfen. Es wurde im vergangenen Jahr aufgestellt.

Zur Errichtung des Denkmals und zur Ausstellung „Kinderemigration aus Frankfurt am Main“ des Deutschen Exilarchivs 1933-1945 in der Deutschen Nationalbibliothek haben die Nationalbibliothek und das Frankfurter Kulturamt ein Buch herausgegeben, das sechs Fluchtbiografien zusammenfasst: „Kinderemigration aus Frankfurt am Main“ (Wallstein, 2021, 258 Seiten, 24,90 Euro). Es gibt die Inhalte der Ausstellung publizistisch wieder und zeigt auf, wie das „Waisen-Karussell“ nach Frankfurt kam.

Das Buch erinnert an Lili Fürst, später Lili Schneider, Renate Adler, später Renata Harris, Karola Ruth Siegel, später Dr. Ruth K. Westheimer, Elisabeth Calvelli-Adorno, später Elisabeth Reinhuber-Adorno, Josef Einhorn, später Josef Karniel und Lina Liese Carlebach, später Lee Edwards. Sie waren Kinder jüdischer Herkunft, die am Frankfurter Hauptbahnhof Abschied von ihrer Familie und ihrer Heimat nehmen mussten.

Verfolgung:

Frankfurt war bis zur Machtergreifung der Nazis im Jahr 1933 die deutsche Stadt mit dem höchsten jüdischen Bevölkerungsanteil. Die jüdischen Gemeinden zählten 30 000 Mitglieder, es gab Synagogen, jüdische Schulen, Einrichtungen der Erwachsenenbildung und der Wohlfahrt.

Ab 1933 wurden Jüdinnen und Juden systematisch angegriffen und entrechtet, etwa mit dem Boykotttag am 1. April 1933 und dem „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ am 7. April 1933, das zur Entlassung von Jüdinnen und Juden führte.

Weitere Schritte der Entrechtung waren die Bücherverbrennungen am 10. Mai 1933, die „Nürnberger Gesetze“ vom 15. September 1935, die Novemberpogrome 1938. Nach den Novemberpogromen wurden jüdische Mitbürger:innen festgenommen und inhaftiert, mehr als 3000 Menschen wurden nach Dachau und Buchenwald deportiert.

Viele Familien versuchten, das Land zu verlassen. Von November 1938 bis zum Auswanderungsverbot im Oktober 1941 emigrierten etwa 7000 Frankfurterinnen und Frankfurter. (fle)

Man denke sich in Eltern hinein, die ihrem Kind am Bahnhof Lebewohl wünschen - nicht wissend, ob sie es jemals wieder sehen werden. Man denke sich in Kinder hinein, die ohne den Schutz ihrer Eltern aufbrechen müssen in ein fremdes Land, in eine ungewisse Zukunft.

Um einen Lebensweg hervorzuheben: Karola Ruth Siegel, die spätere Sexualtherapeutin Ruth K. Westheimer, wurde am 4. Juni 1928 im fränkischen Wiesenfeld geboren. Sie zog in die Brahmsstraße 8 im Frankfurter Westend, ging auf die Samson-Raphael-Hirsch-Schule. Ihr Vater wurde am 16. November 1938 verhaftet und nach Dachau deportiert.

„Auf bald, mein Kind“

Sie erinnert sich in ihrer Autobiografie, die sie 1987 veröffentlichte, dass ihr Vater ihr zuwinkte, bevor er auf den Lastwagen stieg. Aus der Lagerhaft bat er Karola, mit einem Kindertransport zu flüchten. Sie verließ Frankfurt am 5. Januar 1939 mit einem Kindertransport in die Schweiz. Ihre Mutter und ihr Vater wurden deportiert und ermordet. Nach Stationen in Palästina und Frankreich emigrierte sie in die USA, bildete sich zur Sexualtherapeutin weiter, lehrte und publizierte - und wurde in den 1980er Jahren mit der Radiosendung „Sexually Speaking“ als „Dr. Ruth“ berühmt. 2019 kam der Film „Ask Dr. Ruth“ in die Kinos. Namensblöcke an der Gedenkstätte Börneplatz erinnern an ihre Eltern, Julius und Irma Siegel, und ihre Großmutter, Selma Siegel. Stolpersteine sollten aber nicht verlegt werden, wie sie gegenüber dem Kulturamt sagte.

Die Illustrator:innen Hamed Eshrat, Illi Anna Heger, Sascha Hommer, Magdalena Kaszuba, Ilki Kocer und Birgit Weyhe haben den Lebensweg von „Dr. Ruth“ und den fünf weiteren Protagonist:innen in Comics nachgezeichnet. Die Traumata, der Verlust des Weltvertrauens, die „Überlebenden-Schuld“ werden bildhaft vermittelt.

Organisationen wie die „Reichsvertretung der Juden in Deutschland“, die „Jüdische Wohlfahrtspflege“, das „Palästina-Amt“ und die katholische und die evangelische Kirche unterstützten die Jüdinnen und Juden bei den zahlreichen bürokratischen Schritten, die für die Ausreise nötig waren. Sie und die aufnahmebereiten Staaten trugen dazu bei, dass 20 000 Kinder bei den Kindertransporten gerettet werden konnten.

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