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Frankfurt: Der Zufall führt zum Westbahnhof links und rechts der Gleise

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Von: Clemens Dörrenberg

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Schlittschuhe in Maßarbeit gibt es bei Thomas Koch. Er ist Mitinhaber des Roll- und Schlittschuh-Fachgeschäfts an der Hamburger Allee.
Schlittschuhe in Maßarbeit gibt es bei Thomas Koch. Er ist Mitinhaber des Roll- und Schlittschuh-Fachgeschäfts an der Hamburger Allee. © Michael Schick

Ein Dartpfeil auf den Frankfurt-Stadtplan führt den Autor zum Schlittschuhschleifen und zu Filme-Macherinnen.

Der Pfeil landet diesmal ziemlich genau im Westbahnhof. Nachdem die Werfer:innen zuletzt öfter randständige Quartiere getroffen hatten, geht es am kalt-klaren, sonnigen Donnerstagmorgen in einen westlich, innenstadtnah gelegenen Stadtteil und quasi ins Herz Bockenheims, das nicht weit von der FR-Redaktion entfernt schlägt.

Vor der ockerfarben gefliesten Fassade des Bahnhofsgebäudes läuft Clara Jäschke auf und ab. „Ich bin Drehbuchautorin und warte auf meine Co-Autorin“, sagt die 24-Jährige. „Wir arbeiten an einem Langfilm, einer Tragi-komödie um eine Mutter-Kind-Beziehung.“ Mehr könne sie allerdings nicht verraten.

Das Duo, das derzeit an der Goethe-Universität für den Master-Studiengang Theater-, Film- und Medienwissenschaften eingeschrieben ist, will seinem Produzenten von der Firma „Strandfilm“ die aktuelle Fassung vorstellen. Sie sei weniger aufgeregt als vielmehr „enthusiastisch“ und auf das Urteil des Produzenten gespannt, berichtet Jäschke.

Als ihre Kommilitonin Daria Pantyukhova zügigen Schrittes aus dem Bahnhof kommt, läuft sie hinter dem FR-Fotografen und -Reporter sowie Jäschke vorbei, ohne ihre Freundin zu sehen. Nach mehreren Rufen dreht sich die 25-Jährige um und kommt zurück. „Wir haben zusammen unseren Bachelor in Soziologie gemacht und waren zum Studieren auch in Bockenheim“, sagt die Offenbacherin. Seit fast zwei Jahren arbeiteten sie an ihrem Film und träfen sich regelmäßig am Westbahnhof, um gemeinsam zu Terminen mit der Produktionsfirma zu gehen, die ihre Räume in einer Seitenstraße hat. „Wir müssen jetzt aber los, wir wollen ja wissen, was passiert“, sagt Pantyukhova und meint die Rückmeldung zu ihrem Projekt. Dann eilen die beiden Studentinnen davon.

Die Filmstudentinnen Clara Jäschke (links) und Daria Pantyukhova treffen sich gutgelaunt am Westbahnhof, um zu einem Termin bei ihrer Produktionsfirma zu gehen.
Die Filmstudentinnen Clara Jäschke (links) und Daria Pantyukhova treffen sich gutgelaunt am Westbahnhof, um zu einem Termin bei ihrer Produktionsfirma zu gehen. © Michael Schick

Auch einige Hundert Meter weiter, die Straße bergab, hat es entlang des Bahndamms jemand eilig. Thomas Koch blickt durch eine geöffnete Glastür des Eckhauses an der Hamburger Allee/Emser Brücke nach draußen. Über dem Schaufenster ist die Aufschrift „Skaters World“ zu lesen. Kurz zögert er, die unerwarteten Gäste, die geklingelt haben, hereinzulassen. „Wir betreuen hier den Leistungssport im Eis- und Rollkunstlauf für ganz Deutschland“, sagt Koch etwas gehetzt. Er habe viel zu tun, bittet dann aber doch nach drinnen. In einem winzigen Hinterzimmer zeigt der frühere Rollkunstläufer, wie er an einer metallicfarbenen Maschine gerade einen Schlittschuh schleift. „Auf den hundertsel Millimeter gerade“ müsse der Schliff sein.

Als Dreimannbetrieb mit zwei weiteren ehemaligen Rollkunstlaufcracks führt Koch das Schlitt- und Rollschuh-Fachgeschäft seit 25 Jahren. „Wir waren Konkurrenten, seit wir zehn waren“, sagt der 48-Jährige und lacht. Vom „bekannten Sporthaus Berntheusel“, das den Schlittschuhverleih in der Eissporthalle betreibt, habe das Trio den Laden 1996 übernommen. Zur Übernahme des Fachgeschäfts sei er aus Bremen nach Hessen gezogen und lebe mit Frau, Sohn (10) und Tochter (13) in Friedrichsdorf.

Zufallstreffer Westbahnhof.
Zufallstreffer Westbahnhof. © FR

Zufälliges Ziel:

Ganz unvorbereitet gehen FR-Reporter:innen für diese Serie auf Tour. Ihr Ziel ist jeweils ein Ort, der zufällig durch einen ungezielten Pfeilwurf auf den Frankfurter Stadtplan bestimmt wird.

Wo der Pfeil steckenbleibt, sind Fotograf:innen und Schreiber:innen am selben Tag unterwegs, sehen sich genau um und fragen die Leute, die sie treffen: Was machen Sie denn da?

Die Zufallstreffer, die daraus entstehen, sind Geschichten, die sonst vielleicht nie erzählt worden wären.

Durch die enge Werkstatt, die gleichzeitig als Lager dient und in der sich Einzelteile wie Schuhe, Kufen, Rollen und Schrauben bis zur Decke stapeln, führt Koch in den Laden. Glitzerkostüme sowie Kufenschoner aus Kunststoff und in Tieroptik hängen dort an den Wänden und warten auf Profis und Freizeitläufer:innen.

Vom Gallus kommend, läuft Leonie Tönies in flottem Tempo über die Emser Brücke. Nachdem sie stehengeblieben ist, berichtet die 29-Jährige, sie habe Urlaub und sei auf dem Weg zur Massage. Daher habe sie nur kurz Zeit. Nach einer anstrengenden Ausbildungsstation als angehende Psychotherapeutin gönne sie sich während der Pandemie „Corona-Urlaub zu Hause“. Am Nachmittag sei sie mit einer Freundin zum Töpfern verabredet.

Mit ihrem Partner ist sie erst kürzlich ins Gallus gezogen, sagt sie und deutet auf ein Haus in der Nauheimer Straße neben einer Trinkhalle. Dort habe sie bis voriges Jahr in einer Wohngemeinschaft gelebt. „Bockenheim war mein erstes Zuhause in Frankfurt“, erzählt die gebürtige Paderbornerin. Und: „Ich habe hier nur in tollen WGs gewohnt.“ Dann zeigt sie ihren breiten Halswärmer in Fußballschal-Optik, den ihr ein ehemaliger Mitbewohner gestaltet habe.

Die Gegend rund um den Westbahnhof sei „etwas ungemütlich und grau“, vermittle jedoch einen „morbiden Charme“. Allgemein im Viertel hebt Tönnies die „herzlichen Leute“, Kioske und Kneipen sowie das Café Crumble hervor.

Auf der anderen Seite der Bahnhofsunterführung steigt Nikolas Michaelidis die Treppe Richtung „City West“ hinauf. Per S-Bahn ist der 76-Jährige aus Steinbach gekommen, um die griechisch-orthodoxe Kirche in der Solmsstraße zu besuchen. Der backsteinrote Bau steht direkt neben dem Treppenaufgang. „Ich will eine Kerze entzünden“, sagt Michaelidis. Anlässlich der Taufe Christi und zum Tag der „Theophania“ sei die gedacht. Und zu Ehren des heiligen Johannes am nächsten Tag wolle er gleich noch ein zweites Licht zum Leuchten bringen.

„Glaube und beten“ seien ihm wichtig, aber fügt er hinzu: „Ich habe ein bisschen Angst vor der Pandemie.“ Deshalb sei er bewusst erst nach dem Gottesdienst vorbeigekommen, um nicht zu vielen Menschen in einem Raum zu begegnen. Vor Corona sei er fast jede Woche einmal zum Kirchgang an den Westbahnhof gekommen, jetzt habe er sich nach mehreren Monaten erstmals wieder getraut. Praktisch findet Michaelidis, dass die Kirche zentral am Bahnhof steht.

Im Anschluss will der Rentner mit der S-Bahn noch weiter in die Innenstadt fahren, um ein bisschen zu bummeln und die Sonne zu genießen. Auch das habe er schon lange nicht mehr gemacht.

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